Konzept I - Performanz von Lehre
Die Vorlesung als Theater
Wunsch und Wirklichkeit
Seit etwa einer Dekade arbeite ich zur materiellen Kultur der Naturwissenschaften in Form akademischer Sammlungen und dies nun im Rahmen meines neuen Projektes zur Entstehung und Rezeption der Pohlschen Demonstrationsversuche zumindest seit Projektstart am 1. April ohne Zugang zum Materiellen. Geplant hatte ich auf Basis meiner Erfahrungen im Provenienzforschungsprojekt zur Humanembryologischen Dokumentationssammlung Blechschmidt einen effektiven, wenn auch wenig reflektierten Einstieg:
- an den ersten Projekttagen in der Sammlung jene Schränke mit Archivalien und historischen Sammlungsobjekten aus der Ära Pohl öffnen, die ich bei meinem ersten Besuch im November 2019 gesehen habe
- den Ausgangs-Erschließungsstand und -Bestand festhalten
- Bestellungen in Universitäts- und vor allem Stadtarchiv auslösen, um abschätzen zu können, wie umfangreich das relevante Material ist
- mir einen Überblick über alle nötigen Arbeitsschritte verschaffen und zum Monatsende einen groben Projektablaufplan bis März 2022 aufstellen – vor allem mit Blick auf die Erschließung und Digitalsierung von Sammlungsbeständen mit Unterstützung durch noch einzustellende studentische Hilfskräfte
- mich nebenbei in die Sekundärliteratur zur Geschichte des I. Physikalischen Instituts, der Biographie Pohls, der physikalischen Lehre im frühen 20. Jahrhundert einlesen.
Geblieben ist von diesem Plan durch die aktuelle Situation nur die Lektüre, denn Sammlung, Archive und vor allem eine konkrete, im Hörsaal stattfindende Präsenzlehre mit Pohlschen Demonstrationsversuchen und deren Vorbereitung durch den Vorlesungstechniker sind mir vorerst unzugänglich. Das ist zugleich ärgerlich und hilfreich. Ärgerlich, weil die Unmittelbarkeit einer Sammlung Orientierung gibt und das Gefühl, mit den Dingen auch das Thema im Griff zu haben – zuletzt aber natürlich vor allem die Wahrscheinlichkeit erhöht, die Forschung im vorgesehenen Zeitraum auch abzuschließen. Hilfreich, weil dadurch gerade weniger im Vordergrund steht, wann etwas geschieht, sondern auf welche Weise. Welchen Zugang wähle ich und wie dokumentiere ich die relevanten Dinge bzw. Sammlungsbestände, wie deren Verwendungsweisen und am Ende eben auch die Forschung daran?
Der Hörsaal als Theater
Fest stand für mich frühzeitig, dass die spezifische Medialität und Performanz, die das folgende Bild zeigt, besondere Methoden erfordert:
Pohl und sein Mechaniker/Vorlesungsassistent Sperber führen in der minimalistischen Darstellung ein Grundprinzip der Mechanik vor – „Kraft = Gegenkraft“ – und demonstrieren zugleich drei wesentliche Merkmale der Pohlschen Lehre:
- einfache Demonstrationsversuche, von denen ausgehend physikalische Prinzipien erläutert werden
- als Schattenrisse an die Hörsaalwand geworfen und so oft auch in den Lehrbüchern abgedruckt
- ein ausgeprägter Inszenierungscharakter, in dem sich der Professor (rechts) gern selbst zum Teil des Versuchs macht
Da diese Praxis so heute teilweise in Göttingen noch angewendet wird, liegt es nahe, mit Foto- vor allem aber Videografie zu arbeiten. Wenig Vorstellung hatte ich jedoch zum Projektbeginn davon, woraufhin ich das so erzeugte Material auswerte, mit welchem Blick ich also die gegenwärtigen Aufführungen im Hörsaal sowie Dokumente, Berichte und andere Artefakte historischer Vorführungen durch Pohl selbst betrachte. Dieser Blick wäre ohne die nun verfügbare Zeit für Recherche und Lektüre weit weniger geschärft.
So bin ich auf der Suche nach Literatur zum Inszenierungscharakter der (experimentell physikalischen) Vorlesung über einen Blogartikel gestolpert, der sich dem Verhältnis der „lecture-demonstrations“ der Royal Institution des 19. Jahrhunderts zu den sogenannten „explainers“ widmet, die in der heutigen Science Museum Group Experimentalvortrag etwa für Schulklassen durchführen (Pitches 2016aP7WKT72L). Im Artikel und der kurz darauf veröffentlichten Dissertation (Pitches 2016bBP8634QU) bedient sich die Theaterwissenschaftlerin Ceri Pitches verschiedener Konzepte aus den Performance Studies, um eine Kontinuität beider Aufführungsformate zu argumentieren. Die Weitergabe des Wissens um die Vortrags-Performance hat ihr zufolge drei wesentliche Merkmale: Sie erfolgt im persönlichen Kontakt zwischen erfahrenen Lehrenden und eher jüngeren Lernenden („vertical transmission“ – Watson 2013T7VJ9W4D) als reproduziertes und reproduzierbares Körperwissen („embodied knowledge transmission“ – etwa Schechner 20065TT6XL9D), wobei alle Beteiligten auf Erinnerungen an andere Performances zurückgreifen und eine je aktuelle Performance damit anreichern („intertheatricality“ – West 201363PWH634).
Pohls Vermittlungspraxis als Performance
Pitches Herleitung eines „performed explaining“ (Pitches 2016bBP8634QU) im britischen Wissenschaftsmuseum aus historischer Praxis lässt sich problemlos auf meinen Projektkontext übertragen, worin nicht zuletzt durch die Hörsaaltechniker eine personelle Kontinuität zurück zum 1952 emeritierten Pohl existiert. Auch gehören Erinnerungen an dessen Lehre meinem ersten Eindruck zufolge zum globalkulturellen Gedächtnis einer ganzen Physiker*innengeneration (vgl. dazu als Beleg etwa Overbeck 1960AF44WGTF für den amerikanischen Raum), die Vorführungen wenn auch nicht von Pohl selbst, so doch von Hörenden seiner Vorlesung und späteren (Hochschul-)Lehrer*innen gesehen haben. Diese sollen im Zeitraum von etwa 1920 bis 1944 über 10.000 Studierende aus dem In- und Ausland besucht haben (Gudden 19447SLBHZJ7: 168).
Leider bleibt Pitches in ihrer Dissertation überraschend abstrakt: Konkrete Performances der „explainer“ werden weder beschrieben noch analysiert, die Kontinuität aus Quellen und Archivalien hergeleitet, nicht aber an der Praxis gezeigt. Um diese soll es mir jedoch gehen, weshalb ich mir aus den Performance Studies erst noch ein Analyseraster für Pohls Vorlesungsversuche herleiten muss. Dieses sollte eine Leerstelle adressieren, welche nicht nur die Arbeit Pitches prägt, sondern sich auch in den Texten findet, auf die sie rekurriert: Performanz ist innerhalb der Performance Studies eine vordergründig zwischenmenschliche Angelegenheit. Interaktionen zwischen Menschen und Dingen mögen auf der Theaterbühne zwar stattfinden, ihre analytische Relevanz scheint dort jedoch deutlich geringer zu sein als für mich mit Blick auf eine physikalische Grundvorlesung, in der die Interaktion zwischen Mensch und Forschungsobjekt oder Messgerät ein Weltbild konstituieren und stabilisieren hilft.