Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

July 29, 2020

Rezeption I - Ein „selten originelles Werk“

Rezensionen als Quelle der Rezeptionsforschung

Historische Rezeption beforschen

Die Frage nach der Rezeption von Lehrmitteln und -konzepten in der Hochschullehre treibt mich um, seit ich mich mit naturkundlichen Lehrsammlungen beschäftige. Die noch vorhandenen historischen Hochschulsammlungen enthalten oft eine ungeheure Fülle an Objekten wie Glas- und Kleinbilddias, Wandbilder, Präparate, Modelle, Apparate, Materialproben usw., die durch global agierende Unternehmen produziert und vertrieben wurden (z. B. für Wandbilder Bucchi 1998RTKG87IK, für Modelle Hopwood 2002729QXHWB, für Präparate Markert & Bergsträsser 2018HLL8LMLH). Der bloßer Anwesenheit entsprechender Objekte in lokalen Sammlungen kann man jedoch nicht ablesen, dass sie auch tatsächlich und erfolgreich eingesetzt wurden. Im Falle Pohls wird der Nachweis und die Charakterisierung einer Verwendung durch Lehrkräfte außerhalb Göttinges vermutlich dadurch erschwert, dass seine Ansätze einem Schüler Pohls zufolge bis in die 1950er Jahre „als selbstverständliches Gemeingut in die allgemeine Praxis übergegangen“ (Mollwo 1954BXZKWVZ6) waren. Dass noch heute Demonstrationen Pohls ohne entsprechende Referenz etwa in den USA durchgeführt werden, zeigt schon eine kurze Youtube-Suche nach einschlägigen Pohl-Versuchen mit einem Drehstuhl:

Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie frühere Lehrende bestimmte Objekt einschätzten, habe ich in der Beschäftigung mit biologischen Modellen und Wandbildern unter anderem auf Rezensionen in Fachzeitschriften zurückgegriffen (Markert & Uphoff 2018ALUV85TI), bisher waren jedoch keine zu Pohl-Lehrmitteln aus der Produktion von Spindler & Hoyer zu finden. Zugleich konnte ich in den ersten Monaten knapp 20 Besprechnungen von Pohls zahlreichen Lehrbuchauflagen im Zeitraum 1927 bis 1975 zusammentragen; genügend Material für eine entsprechende vorläufige Rezeptionsanalyse wäre also vorhanden.

Gattungsmerkmale der Buchrezension

Als Textgattung genießt die Fachbuchrezension ein sehr viel geringeres Ansehen als die ebenfalls in den Zeitschriften abgedruckten wissenschaftlichen Artikel. Eine Rezension stellt ganz offensichtlich keinen eigenständigen fachlichen Beitrag dar und scheint ein parasitäres Verhältnis zum besprochenen Werk zu haben (Orteza y Miranda: 1996N2CBWM7F: 191). Drei genretypische, textstrukturelle „moves“ prädestinieren in meinen Augen die Rezension für eine Rezeptionsanalye: Das besprochene Werk wird innerhalb des diszipinären Feldes verortet, der Inhalt aus einer fachlichen Perspektive evaluiert und abschließend eine (meist) begründete Lektüreempfehlung ausgesprochen oder verweigert (Motta-Roth 1998PV2SSGRF: 35). Vor allem in diesen Textbausteinen entsteht ein eigener Raum für Reflexionen, die über das besprochene Werk weit hinausgreifende können, wie Evelina Orteza y Miranda in einer der wenigen Auseinandersetzungen mit akademischen Rezensionen außerhalb der Ratgeber- und Didaktikliteratur zum Verfassen derselben feststellt:

"[The] Book Review Section of a journal is a significant, if not a necessary instrument for creating a psychological climate for examination, investigation, correction, modification, creation, and invention of ideas and theoretical constructs regarding current theoretical problems, professional practice, and policy statements. [...] It is, in other words, the knowledge creating/knowledge examining domain of the journal. If one wants to be abreast of developments in different disciplines and of the times, one must simply read the Book Review section." (Orteza y Miranda: 1996N2CBWM7F: 197)

Die folgenden Anmerkungen sind als eine Art proof of concept dieses Verständnisses von Rezensionen als Ausdrucksmittel disziplinären Selbstverständnisses und Versuch zu verstehen, Fachrezensionen als Quelle nutzbar zu machen.

Vielfältige Aussagen

Die durchweg positive Aufnahme der neuen Bücher Pohls in den gesichteten Rezensionen scheint für sich genommen banal, ist in den Details allerdings durchaus aussagekräftig – insbesondere was die vermuteten Publika betrifft. So spricht ein Ingenieur von der ersten Auflage der Einführung in die Elektrizitätslehre als „einem ganz eigenartigen, selten originellen Werk“, welches man „allen, die irgendwie mit Naturwissenschaften und Technik zu tun haben, zur Anschaffung aufs wärmste empfehlen kann“ (Mörtzsch 19278EGASV3S). Dabei findet regelmäßig eine  Verdoppelung der Zielgruppen statt, insofern gleichermaßen Lernende wie Lehrende angesprochen werden, wie in dieser Rezension in Naturwissenschaften zur Erstauflage der Einführung in die Mechanik und Akustik:

Das Buch [bringt] eine erstaunliche Fülle wertvoller Anregung -- nicht nur für den Lernenden, sondern, und das vielleicht noch mehr, für den Lehrenden. Man kann, ohne sich einen besonderen Weitblick zuschreiben zu dürfen, schon jetzt sagen, dab sich dieses Buch bald in der Hand jedes Physiklehrers und in jeder Lehrerbibliothek finden wird. (Berliner 1931XTAPWSNZ: 68).

Welche Merkmale diese Lektürestrategien ermöglichen, lässt sich aus den Besprechungen ebenfalls ableiten. Lernende profitieren von einer Didaktik des konsequenten experimentellen Vorgehens, „each idea being derived from the result of an experiment, and suggesting further experiment, and so on throughout the whole subject“ (L. 19286QXMLVM4), während Lehrende diese Anordnung wie ein Handbuch ausführlich kommentierter Demonstrationsexperimente lesen können. Unterstützt werden alle Lesenden den Rezensenten zufolge von den außergewöhnlich zahlreichen und vor allem anschaulichen Abbildungen (S. 1930NQZ8XE35: 941). Ein Rezensent folgert gar, dass die herausragende Text-Bild-Kombination in Pohls Büchern „bis zu einem gewissen Grade faktisch das Miterleben einer Experimentalvorlesung zu ersetzen vermag“ (Thirring 1930QL6E4LRF: 22-23). Die Praxisnähe der Darstellung findet zumindest zwei der bisher zugänglichen Rezensionen zufolge auch in einem überraschenden Detail Ausdruck: „the consistent use of practical (now international) electrical units“ (Blüh 1949KHZY63VQ: 525, auch Mörtzsch 19278EGASV3S), gemeint sind Volt und Ampere. Mit diesen lehrte Pohl in Orientierung an der angewandten Physik ab den 1920ern und schuf damit für seine Studierenden eine Alternative zur Unübersichtlichkeit mehrerer parallel eingesetzter Einheitensysteme. Diese gingen erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts im heute gültigen International System of Units auf (Page 1971MX89RD44), in dem bekanntermaßen ebenfalls mit Volt und Ampere operiert wird.

Nicht originell, aber wertvoll

Bisher ist die Anzahl der verfügbaren Rezensionen überschaubar und ich hoffe, ihre Zahl mit Unterstütung meiner neuen Hilfskraft durch systematische Sichtung von Fachzeitschriften in Veröffentlichungsjahren einzelner Buchauflagen steigen zu können. Die hier vorgeführte Auswertung einiger Pohl-Rezensionen macht in meinen Augen jedoch schon ausreichend deutlich, dass das Medium trotz seiner starken Formalisierung und Floskelhaftigkeit überraschende Einblicke in historische Rezeptionsprozesse erlaubt. Im Falle der „praktischen“ und inzwischen selbstverständlichen Einheiten Volt und Ampere liefern die Besprechungen zudem Hinweise auf gerade aus heutiger Perspektive leicht zu übersehende Text- und Vermittlungsmerkmale. Die Rezensionen führen zudem vor, dass Lehrbücher nicht nur inhaltliche Botschaft vermitteln, sondern auch Medium für eine ‚miterlebbare‘ Vorlesungsdidaktik sein können und sich darin stärker an Lehrende als Lernende richten.