Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

December 14, 2020

Kosmos Pohl III – Reiter, Linsen, Apparate

Die materiellen Elemente der Pohlschen Versuche

Im Rahmen des Projektes beschäftigt mich in mehrfacher Hinsicht die Frage, wie direkt mit Pohl die Dinge verknüpft sind, die ich in der Lehrsammlung der Göttinger Physik vorfinde und die in den heutigen Demonstrationsversuchen der Experimentalphysikvorlesungen benutzt werden. Einmal interessiert mich diese Verbindung für die Sammlungsgeschichte. Bekannt ist, das Pohl eine private Vorlesungssammlung mit nach Göttingen brachte und hier weiter ausbaute. Sie wurde 1932 von der Universität angekauft, als Pohl einen Ruf auf den Lehrstuhl in Heidelberg erhielt und seinen Verbleib unter anderem an diese Übernahme knüpfte (UniGö, Kur. 11036 Bd. 1, Bl. 122). Viele ältere Sammlungsstücke tragen einen „POHL“-Stempel und eine dreistellige Ziffer und gehören mutmaßlich zu diesem Bestand. Andere haben ebenfalls dreistellige Ziffern aber keinen Namensstempel oder tragen den des I. Physikalischen Instituts. Es scheint also zu Beginn zwei Sammlungen gegeben zu haben, die später in der Inventarisierung vereinheitlicht wurden und in diesem Zuge zusätzlich vierstellige Nummern auf Messingschildchen erhielten, die bis heute fortgeführt werden.

Detailaufnahme eines Plattenkondensators mit „POHL“-Stempel und neuerer Inventarnummer (Foto: Michael Markert).

Der Ursprung der Objekte

Zweitens geht es mir bei der Verbindung zwischen Pohl und den Dingen um deren Herstellung. Viele in den Versuchen verwendete Bauteile sind konventionelle Labormaterialien. Carl Zeiss Jena etwa publiziert 1910 ein Bändchen mit optischen Demonstrationsversuchen, bei denen haargenau die gleichen Dinge verwendet wurden, wie bei Pohl: die typischen stählernen Normalprofile einer optischen Bank, gusseiserne Reiter, Linsenhalter mit passenden „Normalstiften“ sowie Bogenlampen (Carl Zeiss Jena 19106CEGNGFM). Es handelt sich weitestgehend um industriell gefertigte Massenware, die sich kaum datieren oder einzelnen Herstellern bzw. Vertrieben zuordnen lässt. In der Göttinger Sammlung findet man dazwischen immer wieder eigens angefertigte Objekte, etwa auf Normalstiften montierte Kameraobjektive, die projizierte Skalen besser abbilden, als die üblichen Einfachlinsen.

Eng damit verknüpft ist eine dritte Ebene, nämlich die der ideellen Herkunft. Es mag sein, dass Pohl Objekte eigens für seinen Vorlesungsbetrieb anfertigte oder anfertigen ließ, aber inwiefern stammen die zugrundeliegenden Ideen auch von ihm? Sein berühmtes und auf Youtube weit verbreitetes Drehpendel etwa zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass seine Skala im Schattenwurf hervorragend ablesbar, das Gerät also zugleich didaktisch überzeugend und auf das Medium der Projektion zugeschnitten ist. Demonstrationsapparate und Anzeigeinstrumente wurden aber auch schon vor Pohl auf die Verwendung für den Schattenwurf abgestimmt (z. B. Wright 19047P7EUB8K: 401).

Was ist ein Objekt?

Eine vierte Ebene ist im Moment dadurch besonders drängend, dass seit Oktober mit Hilfskraftunterstützung charakteristische Pohl-Objekte näher untersucht und dafür fotografiert und in einer Datenbank mit ihren Metadaten erfasst werden. Doch was genau gehört alles zu einem Pohl-Objekt? Zweifellos der bei Spindler & Hoyer bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestellbare Stromlinienapparat (Spinder & Hoyer o. J.H8VGF9LT), ein Metallrahmen mit zwei eng nebeneinander montierten Glasscheiben, zwischen denen Wasser und Tinte durchströmen soll. In dieses Objekt werden im laufenden Versuch verschieden geformte Körper eingebracht und ändern das Strömungsbild, um etwa einen Schiffsrumpf oder Flügel zu simulieren (vgl. auch Bedingungen II).

Stromlinienapparat aus der Physikalischen Lehrsammlung, mutmaßlich der von Pohl verwendete Prototyp (Foto: Marie-Luise Ahlig, Lara Siegers).

Doch tatsächlich benutzbar wird dieser Apparat erst mit einer ganzen Reihe von weiteren Objekten. Zunächst benötigt man zusätzlich einen Schlauch und einen Eimer, um das unten ausströmende Wassser-Tinten-Gemisch aufzufangen. Dann eine Bogenlampe mit Kondensor, um Licht hindurchzuwerfen und auf der anderen Seite eine Sammellinse und ein Umkehrprisma, damit der Apparat scharf auf der Wand abgebildet wird und das Wasser nicht in Richtung Decke zu fließen scheint. Das Ganze montiert man idealerweise auf einer optischen Bank, für die die Einzelelemente vorbereitet sind. Diese sollte sich auf einem drehbaren Experimentiertisch befinden, damit man dem Publikum erst den Aufbau des ganzen Versuchs zeigen kann, bevor man ihn in Richtung Projektionsfläche dreht. Zuletzt dürfen natürlich die kleinen Strömungskörper aus Bakelit nicht übersehen werden, die in den Apparat mit speziellen Metallstreifen eingebracht werden.

Der Stromlinienapparate im Aufbau, fotografiert in den 1960er oder 1970er Jahren vom damaligen Göttinger Vorlesungstechniker für seine Vorbereitung (Lehrsammlung des I. Physikalischen Instituts).

Ein Pohl-Objekt und sein Kontext

Das sind viele Gegenstände und damit viel Erschließungsaufwand und also Hilfskraftstunden, aber ich habe trotzdem beschlossen, dass nicht nur die apparativen, auf Pohl zurückgehenden ‚Kerne‘ der Versuche erfasst werden sollen, sondern exemplarisch auch wiederkehrende Bestandteile wie die unscheinbaren, allgegenwärtigen Reiter in ihren verschiedenen Ausführungen. So werden Standardisierung und Aufbaukomplexität über eine Verknüpfung der entsprechenden Datensätze sichtbar.

Reiter aus der Produktion von Spindler & Hoyer (invertiertes Glasnegativ, StadtA GOE, Dep. 104, N. 173).

Da nun aber diese ganze Konstruktion letztendlich dazu dient, auf einer Hörsaalwand ein Projektionsbild zu erzeugen, sollte auch dieses oder besser noch ein Video der Versuchsdurchführung dem Datensatz hinzugefügt werden. Glücklicherweise wurden unter Beteiligung von Pohls Sohn Robert Otto Pohl (geb. 1929), ehemaliger Physikprofessor wie sein Vater, in den Jahren 2002 und 2003 für die Neuauflage der „Einführung in die Physik“ (Lüders & Pohl 2004ZKMEW5JB, 20067EJRYTXA) Filme unter anderem zum historischen Aufbau des Stromlinienapparates erstellt (Link zum Video). Um den inhaltlichen und strukturellen Rahmen für den Demonstrationsversuch einzufangen, wäre zuletzt noch ein Verweis auf die entsprechende Belegstelle in Pohls Lehrwerk angebracht, die nicht selten den Charakter einer Versuchsanleitung hat oder zumindest entsprechende Hinweise gibt.

Kein auratisches Objekt, sondern zweckgebundener Fundus

Ein Pohl-Objekt ist gerade ohne diesen Lehbuchkontext unvollständig, entsteht es doch für den Vorlesungsbetrieb nur deshalb immer wieder neu, weil es darin zu einem früheren Zeitpunkt einmal als Versuch für genau diesen Zweck beschrieben wurde. Diese Zweckmäßigkeit wiederum erkärt auch die spezielle Dynamik der physikalischen Lehrsammlung. Wie Anke te Heesen festgestellt hat, zeichnen sich Hochschulsammlungen anders als Museen nicht dadurch aus, dass sie Institutionen des Bewahrens sind, sondern dass alle Dinge darin dem „Kreislauf von Forschung und Lehre“ (te Heesen 2008MKZGBSKG: 489) unterworfen. Charakteristisch ist also gerade nicht das datierbare, einer bestimmen historischen Akteur*in zuordenbare, ‚auratische‘ Objekt, sondern das eher beliebige, oft reparierte, immer wieder neu eingesetzte oder auch zweckentfremdete, dessen wesentlichstes Merkmal seine Eignung für den momentanen Einsatzzweck ist. Die dingliche Basis der experimentalphysikalischen Lehre ist deshalb heute wie damals ein überbordender, flexibler Fundus, der von hochspezialisierten, singulären Apparaten bis zu massenhaft vorhandenen, einfachsten Hilfselementen reicht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Lehre Pohls wenig von der seiner Vorgänger, Zeitgenossen und Nachfolger*innen.