Kosmos Pohl I - Der Hörsaal als Infrastruktur
Über die Bausteine physikalischer Lehrkonzepte
Elemente einer Lehrinfrastruktur
In der vorhandenen Literatur zu Pohl und seiner Lehre wird zwar immer wieder die Neuartigkeit und Wirksamkeit seines Vermittlungskonzepts bemüht, dessen Charakteristika bleiben aber eher diffus. Dem 90-jährigen Pohl wurde vom Physikdidaktiker Werner Martienssen eine Deutung als Medienverbund aus Experiment, Lehrbuch und projiziertem Lichtbild vorgeschlagen, auch dieser bleibt darüber hinaus aber bei den vertrauten und unkonkreten Allgemeinplätzen zur Vorlesung:
Wer sie gehört hat, vergißt sie nicht wieder, weder den Inhalt noch die Form. (Martienssen 1974HB7B6ZKA: 314).
Eine umfassende fachdidaktische Analyse speziell aus schuldidaktischer Perspektive steht meiner Einschätzung nach weiterhin aus. Zuletzt hat sich der Physikhistoriker Roland Wittje (20112HX7L6VX) – nicht zufällig gemeinsam mit dem Physikdidaktiker und -historiker Peter Heering wissenschaftlicher Beirat meines Projektes – ausführlich mit dem Lehrkonzept Pohls beschäftigt. Er bestimmt ausgehend von Pohls Ausführungen in der Einleitung der ersten Auflage der Einführung in die Physik mehrere zentrale Elemente:
- es geht bei den Vorführungen eher um die Qualität der Phänomene als deren Quantifizierung
- es werden kleine, bewegliche Experimentiertische (nach Pohls Entwurf) eingesetzt, was Übersichtlichkeit schafft
- die Versuchsaufbauten bestehen aus wenigen, einfachen Bestandteilen
- Schattenprojektionen sind fester Bestandteil der Demonstrationen (Wittje 20112HX7L6VX: 332)
Wittje weist darauf hin, dass alle diese Merkmale in der physikalischen Hochschullehre nicht neu, in dieser Kombination und der Konsequenz in ihrem Einsatz aber besonders durchschlagend waren. Er spricht von einem „System Pohl“ (Wittje 20112HX7L6VX: 325), dass über dessen Lehrbücher und die von ihm entwickelten bzw. verfeinerten und vom Göttinger Unternehmen Spindler & Hoyer vertriebenen Demonstrationsexperimente global verbreitet wurde. Gerade an den entsprechenden Vertriebskatalogen wird der Charakter eines Medienverbundes sichtbar, machen darin doch Referenzen zu den jeweiligen Versuchsabbildungen in Pohls Lehrbuch deutlich, wofür ein bestimmter Apparat aus dem Angebot benötigt wird.
Die bekannten Infrastrukturelemente des „System Pohl“ – allen voran Lehrbuch, modulare Versuchsapparate und Experimentiertisch – werden je eigene Blogbeiträge erhalten, um die spezifische Qualität des Konzeptes anhand seiner Artefakte herauszuarbeiten.
Zwei Hörsäle - zwei Didaktiken
Dass damit aber sicher noch nicht alle relevanten Elemente charakterisiert sind, kann ganz im Sinne Pohls mit einer einfachen Demonstration eindrücklich vor Augen geführt werden, die man „Zwei Hörsäle - zwei Didaktiken“ nennen könnte. Im Jahre 1926 wiedereröffnete Pohl den Großen Hörsaal des I. Physikalischen Instituts in Göttingen, der im Zuge eines Umbaus wegen hoher Studierendenzahlen nicht nur deutlich vergrößert, sondern als Ort der Lehre gänzlich neu bestimmt wurde.
Der Umbau erfolgte nicht nur wenige Jahre nach der Etablierung des neuen Vorlesungsstils, sondern betraf zudem einen erst 1905 neu eröffneten Institutsbau. Der Hörsaal darin war seinerzeit nach modernstem Standard ausgestattet worden (vgl. zur Hörsaalarchitektur in der Physik um 1900 insbes. Jung 1905VD9578AR: 181 ff.) und Institutsleiter Eduard Riecke beschrieb bei der Vorstellung des Neubaus in der Physikalischen Zeitschrift ausführlich die umfassende Elektrifizierung (Riecke 1905WNDRAWBM). Die folgende Abbildung zeigt den ursprünglichen Zustand des Hörsaals, Pohls Neuentwurf wird sichtbar, wenn man das Bild je nach Anzeigegerät mit Maus oder Finger touchiert.
2. Bild: Der Hörsaal nach dem von Pohl initierten und 1926 abgeschlossenem Umbau (Historische Sammlung des I. Physikalischen Instituts der Universität Göttingen, Glasdia R 2).
Auch Pohl beschreibt ‚seinen‘ Hörsaal einige Jahre nach dem Umbau in der Physikalischen Zeitschrift und weist auf zentrale Merkmale hin, die inzwischen schon an anderen Hochschulen bei Um- und Neubauten umgesetzt wurden:
- eine geringe Deckenhöhe für eine gute Akkustik
- ein flacher Anstieg der Sitzreihen für eine gute Sicht
- eine unverbaute 5m tiefe und 12 m breite Experimentierfläche, die als Bühne um 30cm gegenüber den Sitzreihen erhöht ist (Pohl 1933JHSPVGP7: 408).
Versuchsdramatik
Eher am Rande erwähnt Pohl ein Merkmal, dass gerade im direkten Vergleich beider Architekturen auffälliger nicht sein könnte: die geradezu minimalistische Gestaltung, die sich in den unverbauten Wandflächen und klaren Linien spiegelt. Alle Anschlüsse für Gas, Wasser und Strom sind an der Rückwand der ersten Sitzreihe montiert. Die Leitungen zu den Versuchsaufbauten stören so den Dozierenden nicht, der sich hinter seinen beweglichen Tischen befindet, sind aber auch für die Betrachter*innen weitestgehend unsichtbar. Wie Pohl ausführt, mag man „[z]immerweite Fluchten glänzender Marmortafeln mit blinkendem elektrischen Gerät, Schalträdern und bunten elektrischen Meldelampen“ vielleicht für eindrucksvoll halten, ihm geht es jedoch um „Einfachheit und Zweckmäßigkeit“
(Pohl 1933JHSPVGP7: 410). Ganz nebenbei vergrößerte die architektonische Einfachheit die Möglichkeiten für eine eindrucksvolle Vorlesungs-Performance:
- die Dozierenden haben völlige Kontrolle über die Gestaltung ihrer Bühne
- die Apparate (und Lichtquellen) lassen sich frei positionieren und damit eine große Vielfalt von Versuchen durchführen
- es gibt keine festen Einbauten, die Versuchsanordnungen, Sicht- oder Projektionsachsen blockieren oder davon ablenken
Mit dem hohen Maß an Kontrolle und Transparenz schuf Pohl durch den Umbau einen Ort, an dem er mit jeder Demonstration das Credo bestätigen konnte, das über viele Jahrzehnte an der Stirnwand des Hörsaals prangte: „Simplex sigillum veri“ – Einfachheit ist Zeichen des Wahren.