Bedingungen IV – Mehr als eine „harmlose Spielerei“
Lichtenberg und Pohl im Vergleich
Als Pohl seine Stelle in Göttingen antrat, war die Tradition einer physikalischen Grundvorlesung mit beeindruckenden Demonstrationsversuchen in Göttingen schon weit mehr als 100 alt. Besonders erfolgreich waren die Vorlesungen von Pohls erstem Amtsvorgänger als Professor für Experimentalphysik, dem auch als Schriftsteller bekannten Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), der damit viele bedeutende Akteuere der Zeit wie die Gebrüder Humboldt, aber auch ausländische Besucher anzog. Lichtenberg wiederum hatte in seinen Vorlesungsbetrieb Erfahrungen einfließen lassen, die er während einer Englandreise in „public lectures“ sammelte (Heerde 2006US98NJ4H: 26). Auch Pohl interessierte sich für dieses Format und beschäftigte sich etwa mit den „popular lectures“ seines Zeitgenossen Sir Lawrence Bragg (1890-1971) (Kiepenheuer, Freiburg im Breisgau, an Pohl, 23.2.1968, Familienarchiv Pohl).
Wie später Pohl erhielt auch Lichtenberg Hörgeld von seinen Studierenden, er war allerdings sehr viel mehr darauf angewiesen, denn die Universität zahlte ihm kein festes Gehalt. Eindrucksvolle Experimente, die ein möglichst großes, zahlungskräftiges Publikum anzogen – seine Vorlesungen wurden an der kleinen Universität von manchmal mehr als 100 oft adligen Studierenden besucht – waren deshalb geradezu lebenswichtig. Lichtenberg investierte einen Teil des Hörgeldes regelmäßig in neue, oft englische Apparate und erweiterte so seine private Vorlesungssammlung, die er 1789 gegen eine Leibrente an die Universität verkaufte (Berg 2013ME964V47: 651). Sie bildete seinerzeit den Grundstock der Institutssammlung. Auch dies ist eine Parallele zu Pohl, dessen anfangs private Sammlung teilweise aus Hörgeld finanziert wurde und später in das Eigentum des I. Physikalischen Instituts überging (vgl. Kosmos Pohl III – Reiter, Linsen, Apparate).
Nach seiner Berufung auf den Göttinger Lehrstuhl, aber noch vor dem Antritt der Stelle kaufte sich Pohl eine dreibändige Edition von Briefen Lichtenbergs, die er „mit größtem Vergnügen“ laß.
„Ich werde nun manchen alten Apparat, den ich in Goettingen in die aeusserste Ecke der Rumpelkammer verwiesen habe, mit ganz andern Augen ansehen, wo ich weiss, mit welcher Liebe Lichtenberg sich mit der Beschaffung der Dinger geplagt hat, wie stolz er war, wenn er mit ihnen einen Versuch zu Stande gebracht hatte, der uns heute als harmlose Spielerei erscheint.“ (Pohl an seine Schwester, Berlin, 18.01.1918, Familienarchiv Pohl)
Unter Pohls Vorgänger Eduard Riecke (1845-1915) scheinen die Apparate Lichtenbergs also teilweise noch im Einsatz gewesen zu sein. Hieran zeigt sich eine weitere Parallele zwischen Lichtenberg und Pohl, prägten doch beide die physikalische Lehre so stark, dass ihre Demonstrationstechnik jeweils mehr als 100 Jahre im Einsatz war beziehungsweise ist. Pohls Anerkennung der Leistung Lichtenbergs ist es sicherlich zu verdanken, dass manche der Sammlungsstücke aus dem 18. Jahrhundert heute noch vorhanden sind und bei der Besetzung der Professur mit dem Lehrinnovator Pohl nicht ausgemustert und zerstört wurden, wie es oft das Schicksal alter Lehrmittel ist. Zugleich wird daran deutlich, dass Pohl als erfahrener Experimentator natürlich sehr gut nachvollziehen konnte, welche Herausforderungen mit der Entwicklung zuverlässiger, aussagekräftiger Demonstrationsversuche verbunden sind.
Pohls „Einführung in die Physik“ ist nicht gerade dafür bekannt, dass sich darin viele Verweise auf historische Experimente oder Physiker*innen finden ließen (Christlein 1961/19628MSZDA65). Lichtenberg allerdings sowie die von ihm entdeckten „Lichtenbergischen Figuren“ – so werden die charakteristischen Entladungsmuster von Hochspannungquellen auf oder in Oberflächen genannt – tauchen in der Pohlschen Elektrizitätslehre ab der ersten Auflage auf (Pohl 192732ZQ32H2: 44). Die von Lichtenberg zur Erzeugung solcher Phänomene eingesetzten Apparate schienen vielleicht aus Pohls Perspektive veraltet und für die Vorlesung nutzlos. Sein Vermittlungsansatz allerdings war weiterhin aktuell, wie eine Aussage über die Vorführungspraxis Lichtenbergs deutlich macht, die so auch wörtlich in einem Artikel über Pohls Schattenprojektionen stehen könnte:
„[T]he pedagogical emphasis and, ultimately, the grounds of all learning and knowledge and thus the priority in the lecture hall is the immediate experience of natural phenomena and of the use of scientific instrumentation to be gained through experiments staged in the auditorium.“ (Baldwin 2015NWWU4M4V: 200-201)
Wie das Beispiel Lichtenberg zeigt, griff auch der innovative Pohl auf Versuche zurück, die schon seit mehr als 100 Jahren vorgeführt wurden. Er setzte dabei auf eine sowohl disziplinär als auch lokal fest verankerte Tradition auf, die sich aus vielen Quellen speiste.