Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

June 25, 2020

Bedingungen I - Die Hand von Graf Orlok

Schattenprojektion als augmentelles Medium und narrative device

Wie an anderer Stelle argumentiert (vgl. Konzept I), lassen sich (experimentalphysikalische) Vorlesungen als Performance fassen und beschreiben. In Pohls Fall spielt darin das Medium des Schattenwurfs eine besonders zentrale Rolle. Wie gezeigt werden wird, hat dieser als Ausdrucksmittel nicht nur eine lange Tradtion, sondern ist gerade in der Frühphase von Pohls Wirken in Göttingen massenmedial und in besonderer Weise präsent.

Ein Einsatz des flüchtigen Mediums Schatten als eigenständige Kunstform und Inszenierungspraxis lässt sich mit dem chinesischen Puppentheater bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen. Ein früher Beleg für einen „schaduwendans“ (Schattentanz) als Element europäischer Theatertradition findet sich in Samuel van Hoogstratens Einführung in die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts (Hoogstraten 1678QSU4LN94: 259 f.).

Schattentheater in Hoogstratens (1678QSU4LN94: 260) Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst.

Merkmale des Schattens

In Hoogstratens Stich beleuchtet eine annähernd punktförmige und direkt vor dem Auditorium platzierte Lichtquelle auf einer Bühne agierende Menschen, deren Schatten an der Wand erscheinen. Auch beim Betrachten der Abbildung stellt sich jener Effekt ein, der die Darbietung selbst geprägt haben dürfte: Die materielle Wirklichkeit der Bühne tritt zugunsten der vergrößerten und verzerrten Repräsentation auf der Wand in den Hintergrund. Obgleich die Aufmerksamkeit auf der Projektionsfläche liegt, sind in Hoogstratens Schattentanz und anderen augmentellen, also die Realität erweiternden Projektionstechniken wie camera obscura und laterna magica der technische Apparat und gebenenfalls seine Bediener*innen immer im Blick (Gunning 2009JCHR23AX: 26). Das Schattenbild ist damit für die Betrachtenden immer als von Menschen erzeugt und damit vielleicht nicht verständlich, aber prinzipiell verstehbar markiert.

Die Hörsaalprojektionen Pohls stehen ganz in dieser medialen Tradition. Seine Schatten bringen das ‚Bühnenbild‘ des Demonstrationsversuchs für eine bessere Sichtbarkeit vergrößert an die Wand. Die Aufmerksamkeit der Betrachtenden verlagert sich wie im Schattentanz dorthin, was im Vorlesungskontext einen didaktischen Eigenwert hat: Durch die Reduktion der Bildinformation auf die Objektkonturen haben Schattenprojektion eine analytische Dimension (Reust 2002A262IBNR: 13), die sie für Lehrzwecke prädestiniert. Da der Beleuchtungsapparat sich gut sichtbar im Raum befindet, ist der Zusammenhang zwischen Experimentalapparat und Schattenbild und damit den physikalischen Phänomenen und ihrer Repräsentation immer präsent.

Still aus einem Kurzfilm, der einen Mechaniker (rechts) und Pohl (links) in dessen Emeritierungsjahr 1952 in der Vorlesung zeigt. Der Film befindet sich auf der DVD, die dem ersten Band der letzten Auflage seines Lehrwerks (Lüders & Pohl 2017NGGN4L8H) beiliegt.

Film als Sonderfall der Projektion

Sophie Ernst beschreibt in ihrer Dissertationschrift zum Verhältnis von Augmentation und Immersion in der künstlerischen Projektion die bisher genannten Medientechniken als augmentell, da sie die Realität der Bühne, des Salons oder eben des Hörsaals erweitern und ergänzen. Das Kino mit seiner blickfeldfüllenden Projektionsfläche und unsichtbarer Technik ist für sie die erste „immersive experience“ (Ernst 2016AA3SV7XD: 115). Der Wechsel von Augmentation zu Immersion findet dabei aber nicht im Medium, sondern den Betrachtenden statt:

The immersive illusion of projection does not necessarily depend on an ever evolving technology and an media illiterate viewer, rather on the agency of the viewer, who is inclined to suspend her disbelief and embrace the reality of the projected virtual world. (Ernst 2016AA3SV7XD: 46)

Soweit bekannt wurden Filme von Pohl, dessen Lehrtätigkeit 1920 und damit in der späteren Stummfilmära beginnt, weder projiziert noch produziert. Das ist in Anbetracht seiner Inszenierungspraktiken für sich genommen ein durchaus interessanter Befund, der im Verlaufe des Projektes näher untersucht werden sollte. Gleichzeitig verwendet Pohl mit der Schattenprojektion ein Mittel, das gerade für das Filmschaffen der Weimarer Republik als „efficient and gripping narrative device“ (Franklin 1980AJKHFBW3: 178) eine zentrale Rolle spielt. Der Schatten lieferte Kommentar, Gegenstimme oder Subtext, so in besonders prägnanter Weise in Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens, veröffentlicht 1922.

Erweiterung der virtuellen Filmwelt

In einer wegen ihrer sexuellen Aufladung häufig zitierten Szene (vgl. etwa Filmofile 2020K3969FI8) ballt sich die Schattenhand des Vampirs Graf Orlok über der Brust der schlafenden Ellen Hutter zur Faust, worauf diese mit Konvulsionen reagiert:

Indem die (mentale und sexuelle) Kontrolle des Vampirs über sein Opfer durch ein Schattenbild visuell vermittelt wird, erhält die filmische Wirklichkeit eine zusätzliche Bedeutungsebene. Wenn Murnau seinen Vampir diesen Schatten werfen lässt, so setzt er im Sinne Ernsts ein augmentelles Medium in der virtuellen Realität der immersiven Kinoprojektion ein.

Die Kinopräsenz des Schattens, die sich im film noir bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fortsetzen wird, lässt sich als mediales Hintergrundrauschen verstehen, von dem Pohls Präsentationstechniken mit einer erhöhten Aufmerksamkeit profitierten. Allein im Deutschen Reich wurden 1919 etwa 500 Filme produziert und die 3.000 Lichtspielhäuser täglich (!) von einer Million Menschen besucht (Kaes 2004J8ER75GD: 39). Das schwarz-weiße Bewegtbild mit dem Schatten als „narrative device“ war für Pohls Zeitgenoss*innen allgegenwärtig. Im Kino diente das so konstruierte und in Filmen wie Nosferatu oder Das Cabinet des Dr. Caligari (1919/20) aufgezeigte „irrationale Schattenreich der Ängste und Visionen“ als Bewältigungsmechanismus der „existenziellen Unsicherheitserfahrung“ in der frühen Weimar Republik (Kaes 2004J8ER75GD: 48). In Pohls Vorlesung hingegen war der Schattenwurf Mittel der Rationalisierung und Mathematisierung. Das ist für die weitere Untersuchung ein Hinweis darauf, dass mit der Schattenprojektion eine eigenmächtige Ebene der Vorlesung als Erzählung erzeugt wurde, die es in ihren Merkmalen und Funktionen zu charakterisieren gilt.