Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

September 24, 2020

Bedingungen II: Der „liebe Gott“ und die Göttinger Physik

Strukturelle Voraussetzungen für innovative Lehre

Die Etablierung von Pohls Lehre fand in einer spezifischen medialen Umwelt statt, in die sich seine Schattenperformance nahtlos einfügte (vgl. Bedingungen I). Umgesetzt werden konnte diese aber nur mit den entsprechenden institutionellen Rahmenbedingungen, die Pohl von seiner Berufung an maßgeblich mitbestimmte.

Führungswechsel an den Instituten

Obgleich Pohl 1916 als Nachfolger des kurz zuvor verstorbenen Eduard Riecke (1845-1915) auf eine außerplanmäßige Professor für Experimentalphysik an das I. Physikalische Institut der Universität Göttingen berufen wurde, konnnte er diese Position kriegsbedingt erst zu Beginn des Jahres 1919 übernehmen. Mit Pohls Stellenantritt wurde seinerzeit ein Generationswechsel in der Göttinger Physik eingeleitet, der vier der fünf Institute erfasste: 1921 folgten ihm die späteren Nobelpreisträger James Franck (1882-1964) – ein Berliner Kommilitone Pohls – als Leiter des II. Physikalischen Instituts sowie Max Born (1882-1970) als Direktor des Instituts für Theoretische Physik nach Göttingen. Pohls außerordentliche Professur war 1920 in eine ordentliche umgewandelt worden, zeitgleich erfolgte die Ernennung von Max Reich (1874-1941) zum neuen Direktor des Instituts für angewandte Elektrizität (Rammer 2004K4G595V4: 28 ff.). Allein am Institut für Technische Physik blieb mit Ludwig Prandtl (1875-1953) ein älterer Professor mit etabliertem Forschungsprogramm in Dienst.

Die Professoren Max Reich, Max Born, James Franck und Robert Wichard Pohl im Jahre 1923 (Foto: Gerhard Hund)

Breite Lehre

In Pohls Aufgabenbereich als Direktor des I. Physikalischen Instituts gehörte die zweisemestrige, vierstündige Grundvorlesung in Experimentalphysik, die neben Studierenden der Physik und des Physiklehramtes alle Naturwissenschafter*innen und Mediziner*innen besuchten. Bedingt durch den vorhergehenden ersten Weltkrieg waren im Jahre seines Dienstantritts die Studierendenzahlen in diesen (aber natürlich auch allen anderen Fächern) enorm gestiegen. Nach Pohls Aussage hatte die Zahl sich 1919 gegenüber den Vorkriegsjahren auf 600 Höhrer*innen verfünffacht (Privatarchiv Robert Otto Pohl, Pohl, Göttingen, an Margot Pohl, 09.05.1919), was der wesentliche Grund für die spätere Hörsaalerweiterung (vgl. Kosmos Pohl I) gewesen sein dürfte. Während sich Franck und Born auf die weiterführende Ausbildung der Physikstudierenden konzentrierten, war Pohl mit der Experimentalphysik im Studium zahlreicher Fächer und Studierender verankert. Pohls Position wurde dadurch auch außerhalb des eigenen disziplinären Umfeldes an der Universität gestärkt. Verbunden war mit den hohen Studierendenzahlen eine Zunahme des Kolleggeldes, da Studierende die Professoren für den Vorlesungsbesuch direkt bezahlten. Dieses Geld – im Falle Pohls mehrere Tausend Reichsmark im Semester (Privatarchiv Robert Otto Pohl, Pohl, Göttingen, an Martha Pohl, 03.04.1919) – konnte in Forschung und Lehre investiert, aber auch privat ausgegeben werden. Dies schuf einen gewissen Anreiz für erfolgreiche Lehre mit stabilen Hörendenzahlen über das Semester hinweg.

Wegen der großen Nachfrage wurden für die Vorlesung Platzkarten ausgegeben (Historische Sammlung I. Physikalisches Institut).

Isolierte Forschung

Unter dem theoretisch interessierten Experimentalphysiker Franck und dem Theoretiker Born entwickelte sich die Georg-August-Universität zu einem international anerkannten Zentrum der Quantenmechanik. Anders als Franck und Born stand Pohl theoretischen Überlegungen fern und und verzichtete auch auf eine entsprechende Interpretation seiner Ergebnisse. Er etablierte an seinem Institut ein Forschungsprogramm zur detaillierten Untersuchung der elektrischen und optischen Eigenschaften künstlicher, im Labor gezüchteter Kristalle (Eckert & Schubert 1989Q9RH4AYC: 95 ff.). Der extreme Experimentalismus Pohls als „absoluter Herrscher“ (Pick 1981TSMMZYZN: 31) und „lieber Gott“ (Pick 1982JL77LYW3: 10) am Institut – so Pohls Doktorand Heinz Pick (1912-1983) – wurde kaum rezipiert (Teichmann 1988YZVB8SBT: 130) und isolierte ihn von den einflussreichen Strömungen der Physik. Ab den späten 1930er Jahren allerdings bildeten die Erkenntnisse der „Pohl-Schule“ einen wichtigen Baustein für die entstehende Festkörperphysik (Braun 1980HPKH63L6, Teichmann 1888YZVB8SBT, 1990A8RQJEQW) und damit die Entwicklung des Transistors. 

Politik und Physik

Wie Gerhard Rammer ausführt, der sich im Rahmen seiner Dissertation mit den personellen (Dis-)Kontinuitäten der Göttinger Physik beschäftigt hat, überstand an den fünf Instituten nur Pohl mit seinem Stab Nationalsozialismus und zweiten Weltkrieg weitstgehend unbeschadet (Rammer 2004K4G595V4: 31). Zwar sind einige Vorlesungsanekdoten überliefert, in denen Pohl sich über die Nationalsozialist*innen lustig machte (Achilles 2012RXBI8X2D: 16), davon abgesehen gab er sich unpolitisch. Selbst als Pohls Studienfreund Franck im April 1933 seine Professur aus Protest gegen die Entlassung jüdischer Kolleg*innen niederlegte und bald darauf wie auch Born und zahlreiche Mitarbeiter*innen des II. Physikalischen Instituts und des Instituts für Theoretische Physik das Land verließ, blieb Pohl stumm. „Ich will unter keinen Umständen Politik ins Institut kriegen“ schriebt er am 12. Februar 1933 an seine Frau Tussa (Privatarchiv Robert Otto Pohl) bezugnehmend auf antisemitische Angriffe in der HJ-Zeitschrift „Fanfare“ gegen das jüdische Personal der mathematischen und physikalischen Institute Göttingens.
Gleichzeitig war sein Lehrkonzept im NS-System zumal während der Kriegsvorbereitungen und des Krieges sehr anschlussfähig: Erstens bespielte er mit seinen Demonstrationen in der Strömungslehre kriegswichtige Physik und verschiedene Einrichtungen von Marine und Luftwaffe forderten von Spindler & Hoyer Angebote für entsprechende Demonstrationsversuche (StadtA GOE, Dep. 104, Nr. 37). Und zweitens – darauf hat Ulf Rosenow in seiner Analyse der „Göttinger Physik unter dem Nationalsozialismus“ hingewiesen – erfüllte er mit seiner Vorlesung, wenn auch ohne jede ideologische Motivation, „wichtige Kriterien der ‚Deutschen Physik‘ [...] nämlich große Anschaulichkeit, unmittelbare Naturverbundenheit durch sorgfältiges Experimentieren, Vermeidung ‚formalistischer‘ Vorgehensweise.“ (Rosenow 1987V244CDIP: 384)

Pohls ab 1926 erhältlicher Stromlinien-Apparat im entsprechenden Katalog von Spinder & Hoyer. Durch feine Löcher einströmende Tinte bildet im ablaufenden Wasser Bahnen, in die sich verschieden geformte Körper zur Veränderung der Strömung einsetzen ließen (Spindler & Hoyer o. J.H8VGF9LT: 1).

Gute Bedingungen für innovative und erfolgreiche Lehre

Mehrere Faktoren beförderten damit die Entwicklung eines neuartigen Lehrkonzeptes, dessen Ausbau und langfristige Verankerung. Erstens ein umfassender Führungswechsel an den physikalischen Instituten bei Stellenantritt, zweitens dauerhaft hohe Studierendenzahlen durch eine Grundvorlesung für viele Fächer und drittens Pohls unpolitisches Auftreten sowie anschlussfähiges, praxisorientiertes Lehrkonzept, was in allen Gesellschaftssystemen eine hohe institutionelle Stabilität und weite Handlungsspielräume garantierte. Die damit verbundene Kontinuität hatte auch über Göttingen hinausreichende Auswirkungen, waren doch Berufungen auf experimentalphysikalische Lehrstühle in Deutschland bis in die 1960er Jahre vom Votum Pohls abhängig (Rammer 2004K4G595V4: 143 ff.). Ein vierter Faktor war sicherlich die Isolation der „Pohl-Schule“ für beinahe zwei Dekaden: Während der Fachwissenschaftler Pohl wenig anschlussfähige Experimente publizierte, war der Hochschullehrer Pohl mit seinen Schauversuchen schon nach kurzer Zeit auch im Ausland berühmt.