Konzept III - Lehrbücher als Leitfossilien?
Zur naturwissenschaftlichen Ausbildung in der Wissenschaftsgeschichte
Ausgebildete Normalwissenschaft
„Scientists are not not born, they are made.“ (Kaiser 2005V729WP23: 1) stellte David Kaiser im Jahre unter dem programmatischen Titel „Moving pedagogy from the periphery to the center“ fest. Das Werden von Naturwissenschaftler*innen, so Kaiser weiter, sei innerhalb der Disziplin Wissenschaftsgeschichte bisher nicht besonders intensiv untersucht worden. Zudem sei der dafür einschlägige konzeptionelle Rahmen schon einige Jahrzehnte alt: Thomas S. Kuhns im Jahre 1962 in „The Structure of Scientific Revolutions“ (Kuhn 19963M3RCRZW) vorgelegtes Modell der durch Revolutionen geschaffenen disziplinären Paradigmen, bestehend aus Fakten- und Theoriewissen, metaphysischen Grundannahmen, spezifischen Methoden und Arbeitstechniken sowie Kommunikationsformen.
Dieses komplexe Bündel wird Kuhn zufolge als „Normalwissenschaft“ an eine nachfolgende Generation über die Ausbildung weitergegeben. Das geschieht insbesondere durch Einübung einer fachlichen Perspektive mithilfe von Musterbeispielen - also Paradigmen im Wortsinn – in Übungen, Praktik an und Lehrbüchern (vgl. Markert 2012Z99Z6FHD: 33 ff.). Für Kuhn sind Lehrbücher daher „pädagogische Vehikel für das Fortbestehen der normalen Wissenschaft“ (Kuhn 19963M3RCRZW: 148). Es bleibt allerdings offen, wie dieser Weitergabeprozess im Detail und im Lokalen abläuft, und vor allem, inwiefern eine konkrete Ausbildungspraxis Auswirkungen auf die später ausgeübte Wissenschaft hat (Kaiser 2005V729WP23: 4).
„The Foukuhnian view“ und seine Grenzen
Um sich diesem Problem anzunähern, hatte Kaiser gemeinsam mit Andrew Warwick 1989 ein Analysekonzept vorgestellt, dass sie „the Foukuhnian view“ nannten. Kuhn setzte in ihren Augen wissenschaftliche Ausbildung als passiv-reaktiv Paxis mit dem Erlernen eines Handwerks gleich und betrachtete nur das Ergebnis – ausgeübte ‚Normalwissenschaft‘. Es bedurfte daher für Warwick und Kaiser einer Ergänzung, die die Dynamik und Eigenmacht der Ausbildungsprozesse selbst beschreiben hilft und die sie in Michel Foucaults Idee der Disziplinierung fanden. Ausbildung ist so betrachtet ein aktiver Prozess der ‚Zurichtung‘ zukünftiger Wissenschaftler*innen unter dem Diktat des je gültigen normalwissenschaftlichen Paradigmas (Warwick & Kaiser 1989ZEFWRD8T) und daher „[...] not merely the transmission of knowledge; it is a license to bend its subjects to an authority's view of the world, to make them move, talk, and eventually think like 'normal' citizens“ (Mody & Kaiser 2008S3QEIJM5: 385-386). Entsprechende Studien konzentrieren sich auf die Rolle von Ausbildung bei der Konstruktion von Disziplinen, die Entstehung von „research schools“ oder auch nationale Traditionslinien, in denen sich fachliche und staatliche Disziplinierung deutlich überlappen (Badino & Navarro 2017FYGQD7J4: 5 f.).
Wenn allerdings ausschließlich normalwissenschaftliche Macht ausgeübt wird, dann bleibt verborgen, wie neue Formen von (Ausbildungs-)Wissen in die Welt kommen können. In einer jüngeren wissenschaftshistorischen Arbeit zur Lehrbuchgeschichte wird deshalb vorgeschlagen, den „Foukuhnian view“ zu erweitern und Lehrbücher nicht mehr nur als Produkte wissenschaftlichen Wandels zu betrachten, sondern als „active agents in the creative process of scientific development“ (Badino & Navarro 2017FYGQD7J4: 10). So verstanden reproduzieren Lehrbücher als Elemente pädagogischer Praxis ihre fachwissenschaftliche Referenzpraxis nicht nur, sondern konstituieren diese aktiv mit.
Lehrbücher als Leitfossilien?
In der wissenschaftshistorischen Forschung werden Lehrbücher üblicherweise dafür genutzt, um das behandelte Forschungsfeld zu repräsentieren oder anhand der Lehrbuchentwicklung die Fachentwicklung nachzuzeichnen, wie Adam R. Shapiro ausführt: „In both of these cases, the physical textbook – the printed and bound object – is treated as an artifact from which one can draw inferences about some other objects, concepts, or communities. Textbooks are the papery strata between whose leaves the fossil traces of scientific practices are preserved.“ (Shapiro 2012SSAWZ4GD: 100)
Diese Rede von den fossilen Spuren eines physischen Objekts erinnert an Andreas Ludwigs Verwendung des Begriffs „Leitfossilien“ für Dinge als Zeugnisse, Quellen und Bedeutungsträger innerhalb der Geschichtsschreibung (Ludwig 2015NQ9MC2FG: 438). Ludwig benutzt diesen Begriff nicht zuletzt deshalb, um einer sonst sehr an schriftlichen Dokumenten orientierten Forschungspraxis Dinge als Untersuchungsmaterial schmackhaft zu machen. Doch so physisch ein Buch als Objekt auch sein mag, ‚gelesen‘ wird es als papierne Quelle voller Worte auch in der Forschung zur wissenschaftlichen Ausbildungsgeschichte als Text. So mag es zwar auf andere, physische Quellengattungen verweisen, diese werden deshalb aber nicht notwenig in eine Analyse einbezogen.
Historically, the research on teaching and learning has mediated social practices through language. [...] Often matter and material practices, such as those located in the forms of apparatuses, artifacts, and scientific instruments, are ignored when scholars communicate new knowledge and realities based on their sociocultural examination of the world because language seems so central to what we say and do. Matter is written out of the narrative as the human researcher takes center stage. (Scantlebury & Milne 201943VSHRSQ: 1-2)
Pohl als pädagogisches Paradigma
Pohls Lehrbücher mit ihren Hunderten silhouettierten Experimenten und einer beständigen Bezugnahmen auf eine konkrete demonstrierende Vermittungspraxis (vgl. Kosmos Pohl II) zwingen dazu, Materie mitzudenken und mitzuerzählen. Seine Lehre scheint deshalb in zweierlei Hinsicht paradigmatisch zu sein. Zum einen ist sie ein Paradigma im Sinne des Foukuhnian view: ein mächtiges Vermittlungkonzept, dass Schul- und Hochschulphysik disziplinierte, mit einem eigenen Wissensbestand, spezifischen Methoden, Instrumenten sowie Kommunikationsformen und sogar einer eigenen Architektur (vgl. Kosmos Pohl I). Und zweitens ist sie Musterbeispiel dafür, dass Lehre aktiv von Menschen und mit Dingen gestaltet wird und dass ein Lehrbuchtext als Knotenpunkt einer komplexen, dynamischen Lehr-Umwelt verstanden werden sollte.