Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

October 26, 2020

Kosmos Pohl II - „Einführung in die Physik“

Zum Charakter von Pohls Lehrwerk

Obgleich im Blog schon Rezensionen von Pohls dreibändiger „Einführung in die Physik“ als Ausdruck der Rezeption thematisiert wurden (s. Rezeption I), wurden die Bücher selbst hier bisher noch nicht vorgestellt. Dies hing auch damit zusammen, dass ich mir erst einen Überblick über alle Ausgaben verschaffen wollte und das wegen des Gesamtumfangs der Unterstützung einer studentischen Hilfskraft bedurfte, die erst noch einzustellen war.

Die „Einführung“ als publizistischer Erfolg

Wie die Lehrbücher für Experimentalphysik der Zeit ordnet auch das von Pohl den Stoff um die drei Hauptthemen Mechanik, Elektrizitätslehre und Optik und widmet diesen jeweils einen Band. Mit knapp 1.000 Seiten liegt das Werk im Mittelfeld solcher Einführungen, die in einbändigen Ausgaben 500, in dreibändigen auch 1.500 Seiten Umfang haben können. Kein Werk für die Hochschulausbildung allerdings ist so bildgewaltig wie das Pohls, die tatsächliche Textmenge dürfte daher eher an der Untergrenze des Zeitüblichen gelegen haben. Den Anfang machte 1927 die Elektrizitätslehre, 1930 folgte die Mechanik und 1940 die Optik. Diese bisher nicht erklärbare Verzögerung der Optik ist irritierend, denn die Veröffentlichungsfrequenz der Bücher war teilwiese sehr hoch. Wie ein Rezensent mitteilt, war die erste Auflage der Mechanik mit immerhin 4.000 Exemplaren schon nach einem Jahr vergriffen und Pohl legte 1932 eine verbesserte zweite nach (Bodewig 1932TX44WRTA). Im Jahre 1947 wiederum wurde eine neunte Auflage der Mechanik gedruckt und noch im selben Jahr eine 10./11. Auflage nachgeschoben. Bis zu Pohls Tod im Jahre 1974 erschienen in manchmal jährlichem Abstand erstaunliche 41 Ausgaben, darunter eben auch Doppelauflagen wie 1947 von der Mechanik, was bedeutet, dass vom Springer-Verlag die doppelte der üblichen Menge gedruckt wurde.

Übersicht über alle Auflagen des Pohlschen Werkes bis zur Neuausgabe der „Mechanik“ durch seinen Sohn im Jahr 1983 auf Basis der letzten Korrekturen Pohls. Fett umrandet sind alle Fassungen, die der Einleitung zufolge stärker überarbeitet und etwa neu strukturiert wurden.

Während in den ersten Jahren die Höhe einer Auflage wie erwähnt bei 4.000 Exemplaren lag, waren es etwa 1943 im Falle der in Leipzig durch die Bombardierung praktisch komplett vernichteten 6. Auflage der Optik 6.300 (Notiz auf dem Vorsatz eines Exemplars der 6. Auflage im Privatarchiv von Robert Otto Pohl). Insgesamt sind so zu Lebzeiten Pohls 260.000 Exemplare des deutschsprachigen Werkes in Umlauf gekommen (Minnigerode 1976Z79QRFMG: 142); zuzüglicheiniger übersetzter Ausgaben etwa auf Englisch, Italienisch, Russisch oder Marathi, einer wichtigen indischen Sprache. Eine Übersetzung war jedoch nicht notwendige Voraussetzung für eine internationale Rezeption, denn schon die erste Auflage der Elektrizitätslehre wurde in der britischen Zeitschrift „Nature“ besprochen (L. 19286QXMLVM4).

Titelblatt der indischen Ausgabe von Pohls (1964KSIUX2H8) Mechanik.

Textmerkmale

Das Werk hebt sich durch mehrere Merkmale von anderen der Zeit ab. So enthält es in Form von Schattenrissen der Demonstrationsversuche (vgl. auch Bedingungen I) nicht nur sehr viel mehr Abbildungen als andere Lehrbücher. Diese prägen dem Pohlschen Werk gestalterisch einen sehr eigenen Stempel auf und haben einen hohen Wiedererkennungswert. Zudem verfolgt Pohl ein eigenes Konzept, besteht er doch  darauf, dass es sich bei seiner „Einführung“ nicht eigentlich um ein Lehrbuch für Studierende handelt, wie er in der ersten Auflage der Mechanik herausstellt: „Die Darstellung befleißigt sich großer Einfachheit. Diese Einfachheit soll das Buch außer für Studierende und Lehrer auch für weitere physikalisch interessierte Kreise brauchbar machen.“ (Pohl 1930YICCB9LC: Vorwort) Im Zitat adressiert Pohl eher beiläufig Schullehrkräfte, die auch in Rezensionen eine wichtige Rolle spielen (vgl. Rezeption I). Als Kernzielgruppe sind sie für ein eng an der konkreten Göttinger Universitätsvorlesung orientiertes Lehrwerk jedoch zweifellos überraschend. Mit den „physikalisch interessierten Kreisen“ als erweiterter Zielgruppe sind nicht zuletzt Personen aus der angewanten Physik gemeint, denn schon ein Jahr zuvor freute sich Pohl über die „Zustimmung technischer Kreise“ (Pohl 1929Y4EYMPUC: Vorwort) zu seiner „Einführung in die Elektrizitätslehre“. Pohls Text richtet sich also an mehrere sehr unterschiedliche Zielgruppen, setzt dabei aber ein gewisses Vorwissen voraus, wie die Rezensenten betonen (z. B. Hillers 19317QM9XVJ5: 39; Christlein 1961/628MSZDA65).

Seine diversen Publika erreicht Pohl mit einer geschlossenen, von Zentralkonzepten der jeweiligen Subdiszipin ausgehenden Darstellung, die mit tradierten Ordnungen bricht. So führt er etwa die sogenannten Lissajous-Figuren in einem der ersten Kapitel der Mechanik anhand einfacher mechanischer Feder-Modelle als „allgemeine elastische Schwingungen eines Massenpunktes“ (Pohl ä1930YICCB9LC: 48) ein. Benannt sind diese Figuren nach Jules Antoine Lissajous (1822-1880) der die Schwingungen einer Stimmgabel experimentell mit einem Lichtstrahl sichtbar gemacht hat. Sie werden deshalb in anderen Lehrwerken der Zeit erst sehr viel weiter hinten in der Akustik behandelt, was ihren Charakter als Anwendungsfall einer elementaren mechanischen Schwingungsform verdeckt.

Darstellungen der Elektrizitätslehre wiederum begannen in Orientierung an der wissenschaftshistorischen Entwicklung oft mit der Reibungselektrizität (Elektrostatik) und schlossen daran gleich die Elektrokinetik mit ihren ‚fließenden Elektronenströmen‘ an. Pohl hingegen führt zuerst magnetische und elektrische Felder ein und entwickelt daraus das elektromagnetische Feld und seine technischen Anwendungen Motor und Generator. Erst danach werden die Leitungsströme in verschiedenen Medien und damit auch das Elektron näher charakterisiert. Zusätzlich bricht Pohl auch auf inhaltlicher Ebene mit der Darstellungstradition der Physik im Lehrwerk, finden sich doch bei ihm praktisch keinerlei historische Daten wie Personennamen oder Entdeckungsjahre (Christlein 1961/628MSZDA65).

Die „Einführung“ als Vorlesungsscript

Trotz der Neuartigkeit der Darstellung – die von den Rezensenten in den höchsten Tönen gelobt wird (vgl. Rezeption I) – ist das Buch doch insofern ein konventionelles Lehrwerk der Experimentalphysik, als das es dem Gang der vierstündigen, zweisemestrigen Grundvorlesung folgt. Es ist dabei aber nicht nur Zeugnis von deren Aufbau und Inhalt, sondern vermittelt auch detaillierte Informationen über den konkreten Ablauf einzelner Experimente. Gerade dieser Aspekt öffnete das Buch für Lehrkräfte als Zielgruppe, fanden diese doch Vermittlungsinhalt und Versuchsanleitung verschränkt vor. Der Buchtext ist in diesem Sinne als eine Art Script lesbar, das physikalische Beschreibungen und Erklärungen mit ‚Regieanweisungen‘ kombiniert.

Auszug aus der Darstellung der Lissajous-Figuren in Pohls (1930YICCB9LC: 47) Mechanik, der die Verschränkung von Inhalt und Versuchsanleitung deutlich zeigt.

Während des langen Veröffentlichungszeitraums der „Einführung“ aus Pohls Hand über immerhin 47 Jahre schrieb er das Script immer wieder um. Bis in sein Todesjahr versuchte Pohl damit auch den massiven Umwälzungen innerhalb der Physik während des 20. Jahrhunderts gerecht zu werden. Bei weitestgehend stabiler Textlänge – für sich genommen schon eine erstaunliche Leistung – wurden immer wieder neue Inhalte und Versuche eingeführt und dafür an anderer Stelle Kürzungen vorgenommen, ohne den Grundcharakter zu verändern (Hecht 1975DL7IIZDL: 370).

In Vorbereitung ist derzeit eine Detailanalyse, in der ich untersuchen möchte, wie sich das Werk über die Zeit verändert hat und in welchem Verhältnis die drei Textteile zueinander stehen. Besonders interessiert mich darüber hinaus der Script-Charakter und inwiefern dieser das Buch tatsächlich zu einem „Handbuch für Vorlesungsassistenten“ (Ruppel 19648PIIVF4T: 498) machte, dass eine Vorlesung der Experimentalphysik nicht nur begleitete, sondern auch als ‚Anleitung‘ taugte.