Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

January 21, 2021

Rezeption II — Einflüsse in Göttingen

Traditionen der Lehrmittelproduktion und Versuchsdurchführung

Was die Rezeption des Pohlschen Werkes anbelangt, stand bisher hier im Blog sein Lehrwerk (vgl. Kosmos Pohl II) im Vordergrund. Für dieses liegen zahlreiche Rezensionen vor, die beredetes Zeugnis von der hohen Relevanz für Schule und Hochschule im In- und Ausland geben (vgl. Rezeption I). Schwieriger zu analysieren ist Pohls zweifellos vorhandener lokaler Einfluss und dies nicht zuletzt deshalb, weil er sehr vielschichtig ist. Schon erwähnt wurde, dass in der Lehrsammlung des I. Physikalischen Instituts zahllose Objekte aus der Pohl-Zeit vorhanden sind, die weiterhin in Lehrveranstaltungen verwendet werden und vom Göttinger Hersteller optischer und feinmechanischer Instrumente Spindler & Hoyer für Lehrzwecke produziert und vertrieben wurden (vgl. Kosmos Pohl III).

Die Ära Pohl

Ebendiese Übernahme der Pohlschen Lehrmittel in das Portfolio von Spindler & Hoyer ab 1926 ist die frühste nachweisbare Rezeption, nicht zuletzt, weil sie noch vor der Veröffentlichung der Lehrbücher – beginnend mit der  Elektrizitätslehre im Jahre 1927 – stattfand. Zu diesem Zeitpunkt waren unter anderem schon der allgemein verwendbare Experimentiertisch sowie der Stromlinien-Apparat (s. auch Kosmos Pohl III) und einige Apparate zur Schwingungslehre erhältlich (StadtA GOE, Dep. 104, Nr. 37, an Muslim University, Physics Department, Aligarh [Indien], 29.07.1926), die erst 1930 in Pohls Mechanik näher beschrieben wurden. Pohl wusste natürlich im Jahre 1926 noch nicht, dass seine Lehrbücher so extrem erfolgreich werden würden. Im Geleitwort zur Spindler&Hoyer-Festschrift zum 75. Firmenjubiläum schreibt er daher 1973, er wäre zuerst skeptisch gewesen, als „[...] Adolf Hoyer, der Firmengründer, die Erlaubnis erbat, die Apparate ungeändert nachbauen zu dürfen, weil nach seiner Meinung viele Stellen Wert darauf legen würden, die Dinge ebenso zu bringen wie in Göttingen. Herr Hoyer hat recht behalten.“ (Meinhardt 19734NI9M84J: 12) Dies bedeutete für das Unternehmen einen erheblichen, Jahrzehnte währenden kommerziellen Erfolg (Meinhardt 19734NI9M84J: 74).

Doch Pohl hatte auch Einfluss auf die Lehrmittelproduktion eines zweiten Göttinger Unternehmens, der für den Physik-Unterricht in Deutschland besonders bedeutenden „Physikalischen Werkstätten“, kurz PHYWE. Anders als der Hersteller von Präzisionsinstrumenten Spindler & Hoyer war PHYWE auf kostengünstige Lehrmittel für den breiten Schuleinsatz spezialisiert und auf diesem Markt schon etabliert. Wie ein früherer Mitarbeiter in einem Interview berichtet, besuchte der bei PHYWE beschäftigte Ingenieur Erwin Roller in den 1920er Jahren die Pohl-Vorlesungen und baute die dortigen Versuche zur  Elektrizitätslehre für die Ausbildung von Lehrlingen im Unternehmen nach. Als der Geschäftsführer des Unternehmens diese Aufbauten sah, beschloss er, sie modifiziert für Schulzwecke in Produktion zu geben (Pieper 1981XGUVP2NF: 191). Gemeinsam mit Gewerbelehrer Pricks verfasste Roller mehrere Bände zu Schulversuchen mit dem neuen Versuchsgerät, deren erster Pohl gewidmet war (Roller & Pricks 1933XJYMQMUT), später kam Aufbaumaterial für Optik und Mechanik hinzu, das sicherlich gleichfalls von Pohl beeinflusst war. In einem Katalog der Nachkriegszeit findet sich unter dem Namen „Stromliniengerät“ ein Pohlscher Stromlinien-Apparat, wie er auch von Spindler & Hoyer produziert wurde (PHYWE ca. 1954IEF2F62R: 22).

Auszug aus den „Schulversuchen zur Elektrizitätslehre“ von Roller und Pricks (1935MDCRRYG4: 110). Rechts ist der Aufbau im Schattenwurf dargestellt.

Nach Pohl

Die Lehrmittel Pohls wurden in Göttingen nicht nur über seine Emeritierung, sondern auch seinen Tod im Jahre 1976 hinaus produziert. Noch 1980 finden sich Experimentiertische nach dem Vorbild Pohls in einem Katalog von Spindler & Hoyer (Spindler & Hoyer 19808B7TYCMJ). Wie lange genau allerdings welche Objekte angeboten wurden, lässt sich zumindest bisher nicht eruieren, da mir keine entsprechende Kataloge zur Verfügung stehen und die Lehrmittelproduktion bei Spindler & Hoyer (heute Linos) eingestellt wurde.

Am I. Physikalischen Institut setzte Pohls Schüler und Nachfolger als Institutsleiter Rudolf Hilsch (1903-1972) die Lehre nahtlos im Sinne seines Doktorvaters fort. Nach seinem Stellenantritt im Sommer 1953 fordert Hilsch von Springer 300 Hörerscheine für Pohls Mechanik in der zwölften Auflage an, was den Preis für die Studierenden von 23.80 Mark auf 19.04 Mark reduzierte (UA Göttingen, Math.-Nat. Inst. 3, Springer-Verlag an das Verlag Berlin an das Erste Physikalische Institut, 10.6.53). Die Menge der Gutscheine dürfte der der Hörer*innen in einem Semester entsprochen haben. 

Während Pohl in den Folgejahren weiter seine Lehrbücher überarbeitete, wurden auch weiterhin Ergänzungen und Veränderungen des stetig wachsenden Versuchsportfolios vorgenommen, wie die von den Vorlesungstechnikern angelegte Dokumentation der Experimente zeigt. Manche Versuche wie der zum Stromlinien-Apparat werden seit den 1920er Jahren praktisch unverändert vorgeführt, andere erst in den 1980er oder 1990er Jahren von Dozierenden wie Prof. Gustav Beuermann neu entwickelt. Es gibt aber natürlich auch Versuche, die früher regelmäßig gezeigt wurden und heute nicht mehr gefragt sind.

Verschiedene nicht mehr benötigte Objekte aus der Lehrsammlung, die heute im Depot der historischen Sammlung gelagert werden (Foto: Michael Markert).

Heutige Situation

Die beschriebene Dynamik hat sich bis heute fortgesetzt. Weiterhin werden einige von Pohls Demonstrationsexperimenten und für den Aufbau nötige Elemente aus seiner Zeit in der Vorlesung in Kombination mit neueren Versuchen verwendet (s. auch Kosmos Pohl III). Wie schon in den 1920er Jahren führen im Vorfeld Dozent*in und Hörsaaltechniker in einer Art Generalprobe alle Versuche einmal in der geplanten Reihenfolge durch und passen Details an. In der Vorlesung selbst ist zur Betreuung der Versuche neben dem Dozierenden immer auch ein Hörsaaltechniker anwesend. Das Ganze findet im „Lichtenberg“-Hörsaal statt, der, obgleich 2003 am Göttinger Nordcampus als Neubau bezogen, in Dimensionen und Ausstattung dem von Pohl genutzten in der Bunsenstraße nachempfunden ist.

Wie mir berichtet wurde, sei die Anzahl der gezeigten Versuche in jeder Sitzung heute jedoch geringer, als noch vor 20 Jahren im „Altbau“ in der Bunsenstraße. So bliebe mehr Zeit für Erläuterungen der Aufbauten und Fragen der Studierenden. Dass die experimentelle Demonstration physikalischer Phänomene und Inhalte in der Vorlesung weiterhin von großer Bedeutung sind, zeigt sich gerade durch die Corona-Situation. Obgleich es zu vielen Pohl-Versuchen professionelle Lehrvideos mit Off-Kommentaren gibt, die im historischen Hörsaal aufgezeichnet wurden, beziehungsweise Videos der üblicherweise vorgeführten Experimente jederzeit durch die Hörsaaltechniker angefertigt werden könnten, finden die Vorlesungen auch ohne Publikum live im Hörsaal statt – verbunden mit einem erhöhten technischen Aufwand für die nötige Übertragungstechnik. 

Klassischer Pohl-Versuch zur Impulserhaltung [vgl. Konzept I], produziert für das Institut für wissenschaftlichen Film in Göttingen unter Beteiligung von Robert Wichard Pohls Sohn Robert Otto Pohl (im beigen Hemd).
Hörsaaltechniker Michael Hillmann (l.) und Dozent Prof. Ansgar Reiners (r.) während der digital übertragenen Experimentalphysik-Vorlesung bei einem der Pohlschen Versuche zur Impulserhaltung.

Eine ganz neue Nutzungsform der Pohl-Versuche ist ihr Einsatz im Rahmen physikhistorischer Seminare am I. Physikalischen Institut durch die Physikdidaktikerin Prof. Susanne Schneider und den Kustos des Physicalischen Cabinetts Dr. Daniel Steil. Beide führen schon seit einigen Jahren gemeinsam Lehrveranstaltungen durch, in denen die Studierenden sich mit Apparaten und Versuchsaufbauten aus der historischen Sammlung der Göttinger Physik beschäftigen. Nun schon das zweite Semester stehen dabei Demonstrationsexperimente von Pohl im Zentrum, die von den Studierenden in Partner*innenarbeit inhaltlich aufbereitet und in ihrem didaktischen Wert für den modernen Schul- und Hochschulunterricht eingeordnet werden. Auch mögliche Alternativversuche werden in diesem Zusammenhang diskutiert. Beide derzeitige Vermittlungsformen – der Seminareinsatz sowie die Vorbereitungs- und Vorlesungssitzungen – sind für mich wichtige Quellen für die Aktualität und Relevanz des Pohlschen Schaffens.