Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

September 30, 2021

Konzept V – Ein Mikrokosmos der Lehre

Pohl als Paradigma

In meinen bisherigen Blogbeiträgen werden sehr unterschiedliche Typen von Dingen thematisiert: Tische, Lampen, Apparate und Bauteile, Glasplattennegative und Fotoabzüge, Briefe und andere Archivalien, Lehrbücher und Kataloge. Sie alle sind zugleich Zeugnisse für die historische Lehrpraxis Pohls und seines Umfelds als auch Quellen, um diese Praxis näher zu charakterisieren und ihren Merkmalen und Eigenheiten auf die Spur zu kommen. 

So offensichtlich diese Verwendung auch ist, so schwer fällt es mir zu beschreiben, wie genau ich die vielfältigen Dinge in meine Forschung einbinde, welche Funktion sie jeweils übernehmen und welchen Stellenwert das Materielle insgesamt hat. In Anlehung an die an anderer Stelle eingeführte experimentelle Wissenschaftsgeschichte (vgl. Konzept II - Die Lehrsammlung als Laborraum) vertrete ich die Position, dass eine historisch gewachsene Praxis wie die experimentalphysikalische Lehre durch ‚reines‘ Quellenstudium, durch bloßes Anschauen von Artefakten (oder Abbildungen davon) und die Lektüre überlieferter Texte kaum zu erschließen ist. Sie ist ein flüchtiger Effekt der Interaktion zwischen Menschen und Dingen und entsteht beim Aufbauen, Umbauen, Vorführen und Erläutern immer wieder neu. Der praktische Umgang mit historischen Artefakten in Lehrsammlungen – die eigene Handhabung von Sammlungsdingen und die Beobachtung ihrer Nutzung durch Hörsaaltechniker:innen und Dozierende – ist für mich deshalb ein integraler Bestandteil meines Forschungsprozesses. Dieses ‚Benutzen als Forschen‘ jedoch ist auch innerhalb der Wissenschaftsgeschichte nicht selbstverständlich.  

Dinge als Quelle

Wie alle historischen Fächer ist auch die Wissenschaftsgeschichte zuerst eine Disziplin des Papiers – sowohl was die verwendeten Quellen als auch die Darstellung von Forschungsergebnissen in Zeitschriften und Monographien betrifft. Zwar kann Andreas Ludwig in seiner kondensierten Einführung in die Dingforschung aus Perspektive der Geschichtswissenschaft (Ludwig 2020RYWRYXSM, http://docupedia.de/zg/Ludwig_materielle_kultur_v2_de_2020) zahlreiche Subdisziplinen und Gegenstandsbereiche aufzeigen, die von der Auseinandersetzung mit materiellen Artefakten profitieren. Es wird aber auch deutlich, dass die Integration materieller Kultur in ein historisches Narrativ nicht reibungsfrei verläuft und zudem auf Nischen beschränkt bleibt. Selbst in der Gedenkstättenarbeit, die oft in einer geschichtsträchtigen Architektur voller historischer Artefakte stattfindet, ist es nicht selbstverständlich, in Dingen mehr als nur Dekor oder pädagogisches Hilfsmittel zu sehen (Bernbeck 2007TDXVVUBF). 

Ein Weg der Annäherung an Dinge, der inzwischen in vielen historisch arbeitenden Disziplinen und entsprechenden Lehrveranstaltungen beschritten wird, ist die Erstellung von Objektbiographien (vgl. für eines der frühesten Modelle Fleming 1999 [1974]2RGVVKGD). In ihnen werden die (auch materiellen) Eigenschaften der Untersuchungsgegenstände, ihre Entstehung, Funktion, Verwendung und gegebenenfalls Umnutzung, Veränderung oder gar Zerstörung festgehalten, um letztendlich Aussagen über die kulturelle Signifikanz des jeweiligen Gegenstands treffen zu können. Einzelne Objektbiographien stehen dabei selten für sich, sondern dienen oft als Arbeitsgrundlage für größere Erzählungen, in denen sie etwa als Fallbeispiele aufgehen (vgl. zur Erstellung von Objektbiographien etwa Braun 2015WJDX5TVQ, zum Diskurs etwa Boschung et al. 2015WQHRGFZT). 

Gruppenbiographien von Lehrmitteln

Wenn es innerhalb der Wissenschaftsgeschichte um Lehre und die darin eingesetzten Artefakte geht, dann wird häufig das Modell einer ‚Gruppenbiographie‘ verfolgt. So gibt es etwa Arbeiten zur Wandbildserie des Leiziger Zoologen Friedrich Leuckart (Redi et al. 2000ZSHFADQ8), den Herstellern mikroskopischer Präparate im deutschsprachigen Raum (Rosenbauer 2003DKE3X96P), den anatomischen Lehrmodellen des Pariser Ateliers von Auzoux (Grob 2000FAZX9IJV), den Blütenmodellen der Dresdner Glasbläser Blaschka (Daston 20064AA5Q3FT) oder den embryologischen Lehrmodellen aus den Freiburger Werkstätten Zieglers (Hopwood 2002729QXHWB). 

Auch unter meinen eigenen Publikationen finden sich neben einer Einzelobjektbiographie zu einem embryologischen Lehrmodell (Markert 2016M7MH2YYXMarkert 2019RTVUE2A5) zahlreiche solcher Gruppenbiographien, etwa zu den Präparaten der Hallenser Firma Schlüter (Bergsträsser & Markert 2018QI6AR58M), den zoologischen Wandbildern an der Universität Jena (Tunger et al. 2012TX5FJ8PE) oder der Produktion naturkundlicher Wandbilder um 1900 (Markert & Uphoff 2018ALUV85TI). Doch so viel all diese gruppenbiographischen Arbeiten auch über Lehrdinge, ihre enorme Verbreitung und Vielgestaltigkeit verraten, so wenig sagen sie über die tatsächliche historische Praxis von Unterricht und Lehre in den Naturwissenschaften. In ihm wurden einzelne Lehrmittelgattungen nicht isoliert betrachtet und verwendet, sondern mit anderen Sammlungsstücken kombiniert, um weitere Medien – Lehrbuch, Tafelbild, manchmal ein ‚frisches‘ Präparat – ergänzt und in eine Lehr-Performance integriert (vgl. etwa Klinger & Markert 2016MT4HVJRK, Degler et al. 202033EUPDQE). 

Pohl als Paradigma

Die Komplexität einer konkreten, lokalen Lehrsituation kann kaum deutlicher werden als anhand der physikalischen Lehrsammlung in Göttingen. Nicht nur griff Pohl auf etablierte Bauteile und Geräte zurück und entwarf eigene Lehrmittel (vgl. Kosmos Pohl III – Reiter, Linsen, Apparate), sondern er schuf sich auch die dazugehörige Infrastruktur (vgl. Kosmos Pohl IV – Der Experimentiertisch) und Architektur (vgl. Kosmos Pohl I – Der Hörsaal als Infrastruktur). Das von ihm verfasste und beständig weiterentwickelte Lehrbuch strukturiert nicht nur den Unterricht mit seinen Apparaten, sondern erläutert zusätzlich deren praktischen Einsatz (vgl. Kosmos Pohl II – Einführung in die Physik). 

Das heute als Untersuchungsgegenstand in tausenden Artefakten vorliegende, historisch gewachsene, weiterhin genutzte und sich beständig verändernde Gefüge kann analytisch gerade nicht dadurch gefasst werden, dass man ‚exemplarisch‘ Einzeldinge oder durch beliebige Merkmale bestimmte Objektgruppen isoliert und damit aus der Masse heraushebt, denn

„Materielle Kultur muss mit der permanenten ‚Überforderung‘ des Menschen durch seine Umwelt rechnen. Erst durch die Herausforderung der ‚geringen‘, der unscheinbaren, halb vergessenen Dinge, auf die eben doch nicht verzichtet wird, wird die Dingwelt zu einem der großen Themen der condition humana.“ (Hahn 2015F69JXDNJ: 40)

Der Mikrokosmos der Göttinger Lehrsammlung mit seinen Bewohner:innen – wenige Menschen und viele Dinge – ist in meinen Augen ein ideales, weil abgeschlossenes Untersuchungsfeld für Mensch-Ding-Interaktionen in der Lehre, gewissermaßen ein Reagenzglas voll gleichermaßen historischer wie lebendiger Lehrpraxis, in dem man verschiedene konzeptionelle Ansätze testen kann. Vielleicht ist Pohl mit seinem Werk im 21. Jahrhundert kein Paradigma physikalischer Lehre mehr, die von ihm begründete Sammlung kann aber zweifellos als Musterbeispiel in der historischen Erforschung von Lehrsammlungen und den damit verbundenen Praktiken dienen.