Kosmos Pohl IV – Der Experimentiertisch
Über den Unterbau der Versuchspraxis
Während des vergangenen Jahres habe ich im Blog verschiedene Elemente von Pohls Lehrkonzept vorgestellt: den Hörsaal, in dem die Vorlesung stattfand (vgl. Kosmos Pohl I – Der Hörsaal als Infrastruktur), die Elemente, aus denen die Demonstrationsversuche zusammengesetzt wurden (vgl. Kosmos Pohl III – Reiter, Linsen, Apparate), die Bogenlampe, die sie an der Stirnwand als Schattenbild sichtbar machte (vgl. Bedingungen III – Punktlicht im Spotlight) sowie das Lehrwerk, dass die Versuche und ihre Interpretation aus dem Hörsaal in Studierstube und Klassenzimmer brachte (vgl. Kosmos Pohl II – „Einführung in die Physik“, Rezeption III – Pflichtlektüre für Physiklehrkräfte). Bisher steht jedoch noch die physische Verbindung zwischen Versuchsaufbau und Hörsaal aus, die schon im zweiten Blogbeitrag (vgl. Kosmos Pohl I – Der Hörsaal als Infrastruktur) benannt, aber bisher nicht charakterisiert wurde: der Experimentiertisch.
Ein Tisch als Lehrmittel
Tatsächlich gehört „der drehbare Experimentiertisch nach Professor R. Pohl“ zu den ersten Lehrmitteln aus der Göttinger Experimentalphysik, die von der Firma Spindler & Hoyer für Hochschulen und Schulen produziert wurden (vgl. Rezeption II – Einflüsse in Göttingen). Es handelt sich dabei um ein massives Dreibein-Stativ, dass auf Rollen steht und sich in der Höhe verstellen lässt, das Oberteil ist drehbar gelagert und kann in Schräglage gebracht werden.
Grundsätzlich sind mobile Tische für die Experimentalphysikvorlesung vor allem deshalb gut geeignet, weil die Versuche darauf in der Lehrsammlung aufgebaut werden können, anders als in einem ‚klassischen‘ Physikhörsaal mit zentralem, fest eingebauten Experimentiertisch, wie er zuerst auch in Göttingen installiert war (vgl. Kosmos Pohl I – Der Hörsaal als Infrastruktur). Der von Pohl entworfene Tisch hat aber noch einige weitere Vorteile: Er ist schmal genug, dass man auf der zwölf Meter breiten Hörsaalbühne problemlos fünf davon mit ausreichend Abstand nebeneinander aufstellen und damit entsprechend viele unterschiedliche Versuche während der 45-minütigen Vorlesung zeigen kann. Er hat Verstellmöglichkeiten in allen Raumdimensionen, vor allem aber kann er horizontal rotiert werden. Das ist in einer großen Vorlesung sehr hilfreich, denn bei optischen Versuchen oder solchen mit kleinen Aufbauten und aufmontierter Lichtquelle (vgl. den Stromlinienapparat in Kosmos Pohl III – Reiter, Linsen, Apparate) zeigt die optische und damit Tisch-Achse üblicherweise Richtung Stirnwand. Montiert auf seinen drehbaren Tischen konnte Pohl die Aufbauten erst um 90° drehen, um sie dem Publikum vorzuführen und zu erläutern, bevor das entsprechende Phänomen erzeugt wurde.
Zuletzt ist Pohls Experimentiertisch mit einem weit verbreiteten Dreikantprofil aus Stahl versehen, dass normalerweise nur für optische Versuche benutzt wurde. Pohl nun verwendete dieses Profil auch als Basis für seine Versuchsaufbauten in Mechanik, Akustik oder Elektrizitätslehre. Selbst komplexe Apparate wurden auf gusseisernen Stiften montiert, um sie in die standardisierten Reiter für das Dreikantprofil stecken zu können. Diese erweiterte Nutzung des Stahlprofils bringt eine wesentliche Einschränkung mit sich, die didaktisch sehr wertvoll ist: Jeder Reiter steht auf der selben Achse und kann jeweils nur ein Versuchselement tragen. Im von Pohl konsequent eingesetzten Schattenwurf sind dadurch die Versuche im Wortsinn leicht zu durchschauen, da alle Elemente etwas Abstand zueinander haben und sich nicht gegenseitig verdecken können.
Tradition und Innovation
Keines der Elemente des Pohlschen Experimentiertisches war zum Zeitpunkt seiner Entwicklung neu. Das Dreikant-Stahlprofil, auch bekannt als Normal- oder Zeiss-Profil – benannt nach dem berühmten optischen Werk in Jena – ist schon um 1900 im Einsatz. Als Teil der sogenannten optischen Bank ist es zu Pohls Stellenantritt in Göttingen im Jahre 1919 längst als flexibles, leicht zu handhabendes System etabliert, dass zumindest für optische Versuche noch bis ins späte 20. Jahrhundert auch für den Laborbetrieb im Einsatz sein wird (S&H 19808B7TYCMJ). Auch kompakte Tische für Versuchsaufbauten existierten schon, darunter das weit verbreitete, vierbeinige und hölzerne Gauss-Stativ, dessen Name auf den Göttinger Mathematiker und Physiker Karl Friedrich Gauss (1777-1855) verweist. Wie dieses Stativ konnten auch diverse höhenverstell- und drehbare Tische vorrangig für Projektionszwecke über den Lehrmittelhandel etwa bei der Firma Max Kohl in Chemnitz bezogen werden.
Pohls Tisch kombinierte zwar bekannte Dinge auf neuartige Weise, war im Vertrieb von Spindler & Hoyer aber deutlich preisintensiver als andere Angebote im Lehrmittelhandel. Immerhin produzierte die Firma vor allem Laborbedarf und entsprechend hoch waren auch Fertigungsqualität und Preis der Lehrmittel, was sie eher für Hochschulen als Schulen eignete. In der Göttinger Physik sind Pohlsche Experimentierttische bis heute im Einsatz und tatsächlich befinden sich auch Tische Pohls darunter, die vor 100 Jahren vermutlich als Vorbilder für die Produktion bei Spindler & Hoyer dienten. Alle Exemplare sind in einem hervorrangenden Zustand und können problemlos noch weitere hundert Jahre eingesetzt werden. Nur die gummierten Rollen sind gelegentlich auszutauschen.