Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

December 16, 2021

Nach den „Projektionen“

Das Material zukünftiger Forschung über die Göttinger Physik

Die Finanzierung meines Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“ erfolgte über das Programm „Pro*Niedersachsen – Kulturelles Erbe – Sammlungen und Objekte". Das Ziel dieser Programmlinie ist es, „die kulturelle Überlieferung in Niedersachsen zu erschließen, zu erforschen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und somit neue Impulse für die Erforschung des kulturellen Erbes in Niedersachsen zu geben.“ (MWK 2018JN8EUB8I) Erschlossen, erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde Pohl als Kulturerbe im Rahmen des Projektes – siehe den Blogbeitrag zuvor. Nun gilt es abschließend also, neue Impulse zu setzen und die losen Enden auszuweisen, die sich aus dem Projekt ergeben. Ich möchte dafür einen Überblick über das von mir im Projektverlauf gesichtete und nur teilweise verwendete Quellenmaterial, die vielfältigen Schriftstücke, Fotografien, Dinge, Bücher und Filme geben, die eine dichte Beschreibung eben nicht nur von Pohls Lehre erlauben.

Für die historische Lehr-Forschung zentral

Wie der Blog zeigt, habe ich für meine eigene Arbeit vorrangig die konkreten, auf die Lehrpraxis bezogene Überlieferung sowie die entsprechenden Artefakte einbezogen; in der Lehrsammlung insbesondere das Pohl-Equipment, soweit es noch in Nutzung ist – etwa ein Dutzend Experimentiertische, mehrere Bogenlampen, zahllose Elemente für die optische Bank wie Reiter, Linsen, Prismen, Filter, Blenden, Kondensatoren. In der Lehrsammlung finden sich auch viele Originalapparate Pohls, die vermutlich als Prototypen für die serielle Produktion durch Spindler & Hoyer (vgl. Rezeption II – Einflüsse in Göttingen) dienten. Nur am Rande konnte ich mich mit zwei großen Sammlungen beschäftigen, die die Hörsaaltechniker im Verlauf des 20. Jahrhunderts selbst zu Dokumentationszwecken angelegt haben: Zeichnungen vieler Versuchsaufbauten auf Millimeterpapier durch alle Hörsaaltechniker seit Wilhelm Sperber und bis in die 1990er Jahre sowie viele Hundert Fotografien von Hörsaalversuchen, die etwa seit den 1960er Jahren angefertigt wurden und das für Lehrveranstaltungen nutzbare Portfolio repräsentieren. Beide Bestände haben meine Hilfskräfte Marie Luise Ahlig und Lara Siegers vollständig und in hoher Auflösung digitalisiert.

Im Depot des Physicalischen Cabinetts wiederum interessierte mich besonders die umfangreiche Sammlung der ebenfalls vollständig digitalisierten Glasplattennegative zu den Abbildungen in Pohls dreibändiger „Einführung in die Physik“ und die aus dem Familienarchiv Pohl (s. u.) inzwischen ergänzte Sammlung derselben in praktisch allen Auflagen und Übersetzungen (es fehlen die Optik-Auflagen Pohl 1943YQ97E2FN, 19489VNFP2YK und 1967T92ST9RD sowie die englischsprachigen Übersetzungen Pohl 19307GJBQ4JF und Pohl 1932TWV3IY3H). Hinzugezogen wurden außerdem Kleinbildnegative und Abzüge zu den Aufbauten einzelner Vorlesungen aus den 1960er Jahren, ausgesonderte Apparate und Teile von Pohl-Equipment, der Inventarkasten zu Pohls ursprünglicher Privatsammlung sowie das ebenfalls im Depot aufbewahrte Inventarverzeichnis der daraus hervorgegangenen Lehrsammlung bis 1969 (die neueren Inventare liegen im Sekretariat des I. Physikalischen Instituts).

Im Universitätsarchiv habe ich hauptsächlich auf die Personalunterlagen Pohls, die Korrespondenz mit dem Kurator sowie die leider nur sehr lückenhaft überlieferte Institutskorrespondenz aus der Ära Pohl und der seines Nachfolgers Hilsch zurückgegriffen. Im Stadtarchiv wiederum liegt der Nachlass der Firma Spindler & Hoyer, der einen Einblick etwa in die Angebotsentwicklung und die Bestellungen von Pohl-Equipment aus aller Welt gibt. Besonders ergiebig war das Familienarchiv Pohl, dass von Robert Wichard Pohls Sohn Robert Otto Pohl betreut und teilweise auch schon aufgearbeitet wurde. Aus diesem Archiv habe ich hauptsächlich die von Robert Otto Pohl transkribierten Briefe mit Familienmitgliedern, die fachliche Korrespondenz vor allem der späten 1950er bis 1970er Jahre, Vortragsmanuskripte und nicht zuletzt zahllose Fotografien genutzt, die etwa Pohl im Hörsaal während der Vorlesung zeigen und damit sehr unmittelbare Zeugnisse seiner Lehre sind. 

Ebenfalls als archivalische Überlieferung kann man die Sammlung der Versuchsfilme verstehen, die vor dem Auszug der Physik aus der Bunsenstraße im Jahre 2003 im originalen Pohl-Hörsaal unter Beteiligung von Robert Otto Pohl entstanden (vgl. Rezeption II – Einflüsse in Göttingen). Sie finden sich als Nachlass des aufgelösten Instituts für wissenschaftlichen Film Göttingen im AV-Portal der Technischen Informationsbibliothek (TIB) Hannover. Diese Sammlung wird in den nächsten Monaten zum einen der knapp einstündige Dokumentarfilm „Einfachheit ist ein Zeichen des Wahren“ (2006) von Ekkehard Sieker ergänzen, der sich der Biographie Pohls, seiner Forschung und Lehre widmet. Zum anderen wird im Portal der TIB auch der von Sofia Leikam und mir erstellte Dokumentarfilm (vgl. Konzept IV – Pohl-Forschung in der Pandemie) zum heutigen Einsatz der Pohlschen Lehre archiviert (https://av.tib.eu/media/55731). 

Offene Enden, ungenutztes Material

Von der enormen Materialfülle allein zur Lehre konnte nur ein Teil im zweijährigen Projekt ausgewertet werden. Anhand der technischen Dokumentation in Form von Versuchsskizzen und -fotografien und im Abgleich mit der „Einführung in die Physik“ könnte man im Rahmen einer Qualifizierungsarbeit die Didaktik des Demonstrationsexperiments bei Pohl und seine stetige praktische und performative Veränderung näher untersuchen. Neben beinahe allen Auflagen der „Einführung“ im Depot des Physicalischen Kabinetts liegen aus dem Familienarchiv Pohl acht Revisionsexemplare sowie im Springer-Verlagsarchiv die Korrespondenz zu den einzelnen Buchprojekten vor, womit sich die Bearbeitungs- und Publikationsschritte detailliert nachzuvollziehen lassen. Mit dieser Materialkombination könnte man in einer zweiten Qualifizierungsarbeit die Dynamik eines didaktisch einflussreichen Physiklehrbuchs über knapp 90 Jahre hinweg und bis in die Gegenwart charakterisieren (die bisher letzten, von Klaus Lüders und Robert Otto Pohl betreuten Auflagen stammen von 2017SLX6RTP9 und 2018FC4E2FPS, vgl. Rezeption IV – Neues altes Lehrbuch). 

Besonders reizvoll aus wissenschaftshistorischer Perspektive dürfte das von mir weitestgehend ignorierte Material vor allem im Familienarchiv sein, dass eine differenzierte biographische Charakterisierung Pohls erlaubt und neue Einblicke in seine Forschungs- und Netzwerkarbeit gibt. Mithilfe der größtenteils durch Robert Otto Pohl transkribierten Familienbriefe – Robert Wichard Pohl schrieb praktisch im Wochentakt an Mutter, Schwester, oder Gattin – lässt sich das private und akademische Leben des Physikers von seinem Studium in Heidelberg 1903 an in einer enormen Dichte charakterisieren, zumal wenn man etwa die ebenfalls aufbewahrten Reiseunterlagen, Vortragsmanuskripte und die zahllosen Fotografien aus dem privaten und beruflichen Umfeld hinzuzieht. Die fachwissenschaftliche Seite und das wissenschaftliche Netzwerk wiederum ließe sich etwa in einer physikhistorischen Dissertation mit den Labortagebüchern Pohls und der umfangreichen Fachkorrespondenz aus dem Familienarchiv beleuchten. Diese kann um die Sonderdrucksammlung im Depot des Physicalischen Cabinetts ergänzt werden, die alle bis zur Emeritierung Pohls am Institut entstandenen Publikationen und damit die gesamte Göttinger Pohl-Schule enthält. Im Depot findet sich im Übrigen auch das „Kristallziehzimmer“ und damit der technische Apparat, mit dessen Hilfe die für die Pohl-Schule so wichtigen künstlichen Kristalle hergestellt wurden. 

Der Robert Wichard Pohl betreffende Teil des Familienarchiv Pohl inklusive der von Robert Otto Pohl angefertigten Bilddigitalisate und als Word-Dokumente angelegten Brieftranskripte wurde im Oktober 2021 zur Langzeitarchivierung und Erschließung an die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB) übergeben. Bis die entsprechenden Einträge in Kalliope recherchiert werden können, was bis zur letzten Bestandseinheit sicherlich ein, zwei Jahre dauert, mag diese von mir bei der Übergabe angefertigte und hier verlinkte Liste als Orientierung hilfreich sein. Alle anderen Bestände können problemlos in den genannten Archiven bzw. in der Göttinger Physik über eine Anfrage beim Kustos des Physicalischen Cabinetts Daniel Steil eingesehen werden, dem auch die erwähnten Digitalisate der Glasplattennegative, Zeichnungen und Fotografien aus dem Lehrkontext vorliegen. Ich stehe selbstverständlich ebenfalls als Ansprechpartner zur Verfügung und würde mich freuen, wenn die Arbeit an und mit diesen interessanten Beständen fortgesetzt wird. 

Beim Verpacken des Nachlasses von Robert Wichard Pohl für den Transport in die SUB. Im Hintergrund ist eine kleine Influenzmaschine Pohls zu sehen, die in der Lehre eingesetzt wurde und sich inzwischen im Depot des Physicalischen Cabinetts befindet (Foto: Michael Markert).