Rezeption IV – Neues altes Lehrbuch
Zur Re-Edition der „Einführung“
Noch mit 92 Jahren arbeitete Pohl an einer Neuauflage seiner dreibändigen „Einführung in die Physik“ (vgl. Rezeption I – Ein „selten originelles Werk“, Kosmos Pohl II - „Einführung in die Physik“, Rezeption III – Pflichtlektüre für Physiklehrkräfte). In seinem Todesjahr 1976 erschien die 13. Auflage der Optik, im Jahr zuvor die 21. Auflage der Elektrizitätslehre. Als Robert Wichard Pohl verstarb, bearbeitete er gerade die 18. Auflage der Mechanik. Sie wurde posthum 1983 von Pohls Sohn Robert Otto Pohl (geb. 1929), ebenfalls Festkörperphysiker und seinerzeit Professor an der Cornell University in den USA, ausgehend von den Korrekturanmerkungen seines Vaters herausgegeben (Pohl 19833V8WZSCN).
Während andere einflussreiche deutschsprachige Lehrbücher wie jene von Ludwig Bergmann (1898-1959) und Clemens Schaefer (1878-1968) oder auch Christian Gerthsen (1894-1956) nach dem Tod der ursprünglichen Autoren von Anderen weiter überarbeitet und herausgegeben wurden, blieb dies Pohls Einführung vorerst verwehrt. Vielleicht galt Pohls Lehrstil in den 1980er Jahren nicht mehr als zeitgemäß, vielleicht waren Form und Text auch zu eigentümlich, als das das Buch von neuen Autor*innen problemlos hätte weitergeführt werden können. Um das Jahr 2000 nahmen dann Robert Otto Pohl und Klaus Lüders, damals Professor für Experimentalphysik an der FU Berlin und in den 1950er Jahren Student bei Pohls Nachfolger Rudolf Hilsch (1903-1972), dieses Vorhaben in Angriff.
Pohl für das 21. Jahrhundert
Im Jahre 2004 (Lüders & Pohl 2004ZKMEW5JB) und damit zwei Dekaden nach der letzten von Robert Wichard Pohl selbst bearbeiteten Auflage der „Mechanik, Akustik und Wärmelehre“ erschien dieser Band als 19. Auflage einer nun zweibändigen Neuausgabe, 2006 folgte die „Elektrizitätslehre und Optik“ (Lüders & Pohl 20067EJRYTXA). Wie im Vorwort vermerkt, wurden im Text einige Anpassungen an der verwendeten Mathematik (Überarbeitung von Vektor- und Integralgleichungen) vorgenommen, inhaltliche Änderungen erfolgten hingegen nicht. Vielleicht ganz im Sinne des ‚alten‘ Pohl wurde das Werk stark gekürzt und zwar um jene Kapitel und Buchteile, die an Aktualität eingebüßt hatten und für die inzwischen geeignetere Einführungstexte vorlagen. Vor allem zahlreiche klein gedruckte Anmerkungen, Spezialkapitel aus der Elektrizitätslehre sowie fast die gesamte Atomphysik aus der Optik wurden gestrichen. Die schon um die Mitte des 20. Jahrhunderts vielgelobten Grundlagenkapitel dieser beiden Bänden jedoch, etwa Pohls Ausführungen zu den elektrischen und magnetischen Feldern, zur Lichtbündelbegrenzung und Interferenz, sowie der gesamte Haupttext aus der „Mechanik, Akustik und Wärmelehre“ blieben erhalten.
Die Grundlage für diese Überarbeitung bildeten Ausgaben aus den 1960er Jahren, als Pohl zwar schon emeritiert, aber noch mit dem I. Physikalischen Institut verbunden war. Eingebaut wurden aber auch Passagen aus anderen, meist älteren Auflagen, sofern diese aus didaktischer Perspektive geeigneter schienen. Es handelt sich damit also um eine kompilatorische Arbeit innerhalb des Pohlschen Schaffens. In Anbetracht der Eigenwilligkeit seines Stils und der Anlage der Bücher ist dies vielleicht die einzige Möglichkeit einer Fortsetzung des Werkes, die nicht zu einer völlig andersartigen „Einführung in die Physik“ führen würde. Der Erfolg dieses Modells zeigt sich nicht zuletzt daran, dass 2017NGGN4L8H und 2108FC4E2FPS die inzwischen dritte Neuauflage des Werkes erschien, weiterhin bearbeitet von Lüders und Pohl und auch in englischer Übersetzung erhältlich (2017BM9WYVAG, 21089GUVDFIZ).
Wiederaufführung klassischer Demonstrationslehre
Die ‚neue‘ „Einführung in die Physik“ enthält natürlich auch die ausführlichen Versuchsbeschreibungen, die vor über 90 Jahren den Ruf des Werkes als Vorlesungs- und Lehrer*innenhandbuch begründeten. Ergänzend erstellten Lüders und Pohl in den Jahren 2003 und 2004 über 60 Filme mit ‚klassischen‘ Pohl-Versuchen im historischen Hörsaal (vgl. Kosmos Pohl I – Der Hörsaal als Infrastruktur) und unter Verwendung historischen Equipments (vgl. Kosmos Pohl III – Reiter, Linsen, Apparate). Besonders reizvoll ist diese Sammlung nicht zuletzt dadurch, dass Robert Otto Pohl selbst die Vorlesungen seines Vaters besuchte und damit dessen Demonstrationspraxis aus erster Hand kennt. Unterstützt wurden Lüders und Pohl vom damaligen Kustos des Physicalischen Kabinetts Gustav Beuermann, der auch bei Rudolf Hilsch studierte und später in Göttingen eine Professur für Experimentalphysik hatte, sowie dem Vorlesungstechniker Joachim Feist, der seit 1983 in Göttingen Pohl-Experimente aufbaut und vorführt.
Diese Versuchsfilme liegen den Neuausgaben als DVD bei und können seit der letzten Auflage über Links im Buch abgerufen werden. Sie sind größtenteils aber auch im AV-Portal der Technischen Informationsbibliothek Hannover als eigene Sammlung hinterlegt. Die Videos geben einen guten Einblick in die Anschaulichkeit der Pohlschen Versuche, aber auch die Freude, die ihre Aufführung den Dozierenden bereiten kann. Diese kann man dem Gesicht Robert Otto Pohls ablesen, der im Film über die „Stabilisierung mit Hilfe eines Kreisels“ auf seines Vaters Modell zur Einschienenbahn balanciert:
Historische Zeugnisse
Erweitert wird dieses für die physikalische Grundlagenlehre direkt relevantes Demonstrations-Material durch einen Dokumentarfilm, der in der Zeit der ersten Neubearbeitung der „Einführung“ durch Lüders und Pohl entstand – „Einfachheit ist das Zeichen des Wahren“ (Regie: Ekkehard Sieker, 2005, 69 min), in dem Leben und Werk von Robert Wichard Pohl beleuchtet werden. Dabei kommen zahlreiche Zeitzeug*innen zu Wort, etwa der Pohl-Schüler und spätere Professor für Experimentalphysik an der Universität Frankfurt Werner Martienssen (1926-2010). Parallel wurde als Beilage der „Einführung“ ein auch hier im Blog schon zitierter Stumm-Film mit Aufnahmen aus einer der letzten Vorlesungen Pohls im Jahre 1952 zugänglich gemacht (vgl. Bedingungen I – Die Hand von Graf Orlok). Ein Ton-Auszug aus der letzten Vorlesung Pohls, gehalten am 31. Juli 1952, befindet sich ebenfalls auf der DVD und zeugt nicht zuletzt von dessen auch in der Vorlesung immer präsenten Humor.
In Kombination mit den Versuchsfilmen, historischen Aufnahmen und dem Dokumentarfilm entstand so kurz nach der Jahrtausendwende – und kurz vor Auszug der Göttinger Physik aus dem schon von Pohl genutzten Gebäude – nicht nur eine medial erweiterte Neuauflage der „Einführung in die Physik“ sondern ein umfassendes Dokumentationsprojekt. Mit Demonstrationen wie der zur „Stabilisierung mit Hilfe eines Kreisels“ sicherte es auch solche Aufbauten für die Nachwelt, die selbst in Göttingen schon lange nicht mehr in der Vorlesung gezeigt werden. Vorgeführt mit historischem Equipment im historischen Hörsaal von Lehrenden mit jahrzehntelanger Pohl-Erfahrung ist der Medienverbund nicht nur ein besonders unvermittelter, sondern auch sehr persönlicher Zugang zum Werk Robert Wichard Pohls.