Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

April 27, 2021

Konzept IV — Pohl-Forschung in der Pandemie

Zwischenbericht und Ausblick

Gerade hat das zweite Projektjahr angefangen und die Halbzeit ist eine gute Gelegenheit für ein Zwischenfazit – nicht zuletzt über eine Sammlungsforschung unter den Bedingungen der Pandemie. Im Laufe des ersten Jahres habe ich drei Blogbeiträge konzeptionellen Aspekten gewidmet und darin die Vorlesung (vgl. Konzept I – Performanz von Lehre), die Sammlungsobjekte bzw. Versuchsaufbauten (vgl. Konzept II – Die Lehrsammlung als Laborraum) und das dreiteilige Lehrbuch Pohls (vgl. Konzept III – Lehrbücher als Leitfossilien?) diskutiert. Ich betrachte Performanz (Vorlesung), Dinge (Aufbauten) und Text (Lehrbuch) als die drei zentralen Bausteine der Pohlschen Lehre und zu jedem Baustein stehen mir eigene, aufschlussreiche Quellenbestände zur Verfügung: Der Diskurs um die Lehrbücher lässt sich etwa mittels Übersetzungen und Rezensionen (vgl. Rezeption I – Ein „selten originelles Werk“) ausweisen. Die historischen Versuchsaufbauten sind unter anderem durch die Vorlesungstechniker seit etwa 1920 in Zeichungen und Fotos dokumentiert worden, ihre Elemente finden sich in historischen Lehrmittelkatalogen  (vgl. Kosmos Pohl II – „Einführung in die Physik“). Und zur Vorlesungsperformance gibt es insbesondere die vom Institut für Wissenschaftlichen Film (IWF) im historischen Hörsaal produzierten Versuchsfilme sowie nicht zuletzt die laufende Experimentalphysikvorlesung, in der immer noch viele Versuche aus der Pohl-Zeit gezeigt werden (vgl. Rezeption II – Einflüsse in Göttingen).

Archivalien sind geduldig 

Insofern es um papierne Quellen wie Drucksachen, Briefe und Fotoabzüge oder digitalisiertes Material wie die IWF-Filme geht, stellt sich die Forschung natürlich weiterhin als unproblematisch dar. Publizierte Monographien und Aufsätze sind auch in einem Lockdown recht leicht verfügbar,  die Göttinger Archive hatte ich in der kurzen Entspannungsphase im letzten Jahr aufgesucht und das ausgesprochen ergiebige Familienarchiv Pohl ist mir inzwischen wieder zugänglich. Sobald aber physische Präsenz von Dingen und Menschen eine Rolle spielt, wird es kompliziert. Gespräche mit Zeitzeug*innen, die ich am liebsten vor Ort führen würde, habe ich auf ein Minimum reduziert, auch weil die meisten naturgemäß zur Hochrisikogruppe gehören. Die Vorlesungen werden größtenteils virtuell abgehalten, sodass keine wirkliche Interaktion zwischen dem Studierenden-Publikum und der Bühnenperformance existiert, die sich beobachten und auswerten ließe. Ein Experimentieren mit Versuchsaufbauten, wie es mir im entsprechenden Blogbeitrag noch vorschwebte (vgl. Konzept II – Die Lehrsammlung als Laborraum) ist wegen der bestehenden Einschränkungen und meist blockierter Hörsäle auch in den Semesterferien kaum möglich. Allein die Digitalisierung von Versuchsapparaten und ihren Bausteinen sowie historischen Glasnegativen zu Pohls Lehrbuch durch meine beiden Hilfskräfte Marie Luise Ahlig und Lara Siegers klappt reibungslos, offenbart aber auch ein Dilemma: Eine Forschung, die sich auf Materialität und körperliche Praktiken konzentriert, findet weitestgehend abwesend und im Digitalen statt. Zudem bleibt mir nicht mehr viel Zeit, denn in einem Jahr schon endet das Projekt. Selbst wenn das kommende Wintersemester in Präsenz stattfände und ich vor Ort in der Lehrsammlung einen größeren Handlungsspielraum hätte – ich bin dann mit der Auswertung bereits erhobenen Materials und dessen Verschriftlichung beschäftigt. 

Der Arbeitsplatz für Objektdigitalisierung im Sammlungsdepot. Dort dürfen sich derzeit maximal zwei Personen gleichzeitig aufhalten (Foto: Michael Markert).

Die Fülle des inzwischen verfügbaren Quellenbestandes ist ebenfalls der Pandemie geschuldet: Es blieb und bleibt gerade durch die Einschränkungen viel Zeit für Lektüren und die Sichtung von Film- und Bildmaterial. Die historische Situation, in der Pohl seine Lehre begann, die Merkmale seines Lehrkonzeptes und die Faktoren seiner Rezeption lassen sich so sehr dicht darstellen, wie der Blog zeigt (zur Arbeit am Blog vgl. „Der Blogbeitrag als Exponat“).    

Medienwechsel für die Performanz

Um die performanzbezogene Lücke nicht allzu groß werden zu lassen und trotz der Einschränkungen die Eigenheiten und Kontinuitäten experimentalphysikalischer Lehre in Göttingen einzufangen, entsteht seit Herbst ein Dokumentarfilm. Film scheint mir das geeignete Medium, um einerseits die raumzeitliche Dynamik der Aktivitäten in und um den Vorlesungsbetrieb einzufangen und gleichzeitig mit wenigen Vor-Ort-Terminen dichtes, aussagekräftiges Material zu erzeugen. Für dieses Unterprojekt habe ich mit Sofia Leikam eine Hilfskraft eingestellt, die den Masterstudiengang Visuelle Anthropologie absolviert und als angehende Filmemacherin Erfahrungen in Kameraarbeit und Schnitt hat.

Gemeinsam entwickelten wir ein Filmkonzept, dass sich vor dem Projekthintergrund auf die Frage konzentriert, wie die experimentalphysialische Lehre unter Verwendung historischen Equipments heute vorbereitet und durchgeführt wird. Wir begleiteten dafür im vergangenen Wintersemester die Hörsaaltechniker beim Aufbau von Versuchen in der Sammlung, die ‚Generalproben‘ von Techniker und Dozent*in zur Versuchsaufführung sowie die Vorlesung selbst und interviewten in der vorlesungsfreien Zeit die Beteiligten zu ihren Perspektiven auf die Lehre mit Dingen. 

Sofia Leikam beim Dreh in der Lehrsammlung der Physik (Foto: Michael Markert).

Gerade erstellt Sofia Leikam eine erste Grobschnittfassung und ich bin optimistisch, dass ich hier in der zweiten Jahreshälfte den Link zum online publizerten Ergebnis nachtragen kann (Nachtrag: was hiermit nun geschieht: https://av.tib.eu/media/55731). Nicht nur wird der Film eine interessante Bereicherung meiner Forschung sein. Er fängt auch ein, was auf der ‚Hinterbühne‘ eines experimentalphysikalischen Hörsaals passiert und welch großer Aufwand mit der Vorbereitung der oft nur wenige Minuten gezeigten Versuche verbunden ist. 

Ein Einblick in das Filmmaterial. Zu sehen sind die Hörsaaltechniker Michael Hillmann (l. o.) und Joachim Feist (r. u.), die Dozentin Sabine Steil (l. u.) sowie Michael Markert (r. o.) (Stills: Sofia Leikam).

Multimediale Ergebnisdokumentation

Trotz oder gerade wegen der Schwierigkeiten entsteht so ein rundes Gesamtpaket zur Pohlschen Lehre: Der Blog dokumentiert den Projektverlauf und gibt eine Art monographischen Überblick über wesentliche Teilaspekte des Themas. Einige davon sollen in Aufsätzen deutlich ausführlicher behandelt werden. Eingereicht ist ein Artikel zur Schattenprojektion als didaktisches Medium (vgl. Bedingungen I – Die Hand von Graf Orlok und Bedingungen III – Punktlicht im Spotlight), ein weiterer, noch zu schreibender Artikel wird sich der Entwicklung und den Merkmalen des Lehrkonzepts widmen (vgl. Kosmos Pohl I – Der Hörsaal als InfrastrukturKosmos Pohl II - „Einführung in die Physik“ und Bedingungen II – Der „liebe Gott“ und die Göttinger Physik). Spannend sind auch die unerwarteten Verbindungen zum Physikunterricht an Schulen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. Rezeption II – Einflüsse in Göttingen und Rezeption III – Pflichtlektüre für Physiklehrkräfte), vielleicht werde ich auch dazu etwas schreiben. Mit dem Film schlussendlich findet eine Koppelung an das Heute statt und dies nicht nur, weil einige der Akteur*innen im Film Masken tragen. Sichtbar wird vor allem, dass eine Lehrpraxis wie die Pohls nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart und Zukunft hat.