Rezeption III – Pflichtlektüre für Physiklehrkräfte
Pohlrezeption in der Schule
Die Versuchsperformance einer Experimentalphysikvorlesung mit der im letzten Monat vorgestellten Kohlebogenlampe und den damit erzeugten Schattenprojektionen auf der Hörsaalbühne (vgl. Bedingungen III – Punktlicht im Spotlight) passt auf den ersten Blick in mehrfacher Hinsicht nicht in eine Schule des frühen 20. Jahrhunderts. Weder verfügen Klassenräume über große Projektionswände noch eine ausreichend tiefe Fläche vor den Tischreihen. Auch stehen keine Techniker für die aufwändigen, manchmal stundenlangen Vorbereitungen von Versuchen zur Verfügung, die dann nur wenige Minuten gezeigt werden. Zuletzt ist die von Pohl genutzte und von Spindler & Hoyer vertriebene (vgl. Kosmos Pohl III – Reiter, Linsen, Apparate) Ausstattung auf Basis von Labortechnik für manche Schulen zu teuer (Schroeder 19299E5YB7N5: 25), auch wenn andere betonen, dass man wegen der Modularität nur eine kleine Grundausstattung benötigt, die in einen einzigen Schrank passt, womit sie „an Umfang hinter der Unterrichtssammlung einer Oberrealschule zurücksteht.“ (Hillers 1928LYG4RCM4: 232)
Ein neuer Physikunterricht
Bei der erwähnten Oberrealschule handelt es sich um einen damals verhältnismäßig jungen Schultyp, der gemeinsam mit dem Realgymnasium in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schnell an Bedeutung gewann. Der Wortteil „real“ bezieht sich dabei auf „Realien“ und markiert die technisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung dieser Schulformen, die sich in einem gegenüber dem humanistischen Gymnasium höheren Studenanteil für Chemie, Geographie, Mathematik, Naturkunde und Physik äußerte – zuungunsten insbesondere der alten Sprachen. Die zunehmende Schüler*innenzahl in diesen Schulformen ist einer der Gründe für das schnelle Anwachsen der Studierendenzahlen insbesondere in den Ingenieurswissenschaften, den Naturwissenschaften und der Medizin und damit die Entstehung der modernen Massenuniversität um 1900: Gab es im Jahre 1865/66 insgesamt 750 naturwissenschaftliche Studierende an den deutschen Universitäten, wo waren es 1900/01 schon 4.769 und zehn Jahre später 7.276 (Jarausch 198265MJGTU7: 136). Betrachtet man die Studierenden aller Fächer, so verdreifachte sich deren Zahl bezogen auf die Gesamtbevölkerung (Jarausch 198265MJGTU7: 30 f.)
Die wachsenden Hörer*innenzahlen und Hörsäle befördern neue Didaktiken wie die Pohls. Doch auch der Physikunterricht an der Schule verändert sich im Zuge der generellen Realien- und Praxisorientierung. Gemeinhin gelten hierfür die sogenannten „Meraner Beschlüsse“ des „Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts“ aus dem Jahre 1905 als Schlüsselmoment. Die darin festgelegten Grundsätze, dass Physik nicht (mehr) als mathematische, sondern als Natur-Wissenschaft zu behandeln sei, generell als Vorbild für die Methode wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion dienen solle und zukünftig Schüler:innen selbst zu experimentieren hätten, wurden bis 1912 in allen deutschen Lehrplänen umgesetzt (Kremer 1985IQVVELPW: 88). Verbunden ist damit auch ein Bedarf an neuen Unterrichtskonzepten und -methoden.
Nachbauten, Ableitungen, Entlehnungen — Pohl als didaktischer ‚Steinbruch‘
Obgleich Pohl seine Demonstrationstechnik primär für die Hochschule entwickelt hatte, konnte sie natürlich auch mit Blick auf die Schule und insbesondere den Oberstufenunterricht ausgewertet werden. Sicherlich einer der ersten, die dies taten, war der schon erwähnte PHYWE-Ingenieur Erwin Roller, der ab etwa 1930 für Schulen gedachte Lehrmittel auf der Grundlage der Pohlschen Vorlesung entwarf (vgl. Rezeption II – Einflüsse in Göttingen). Ebenfalls die Vorlesung besuchte der Lehrer Hermann Daniel, der im Jahre 1948 ein kleines Handbuch zu optischen Demonstrationsversuchen für die Schule vorlegte, zu dem Pohl ein Geleitwort verfasste und das 1960 noch einmal aufgelegt wurde (Daniel 1948T9YLD4AY, Grüter 1960CC2S525T). Daniel verwendet dafür das bei Spinder & Hoyer erhältliche Versuchsmaterial, was darauf hinweisen könnte, dass sich die Ausstattung der Schulen beziehungsweise das Budget für Anschaffungen zwischenzeitlich verändert hatte. Ende der 1920er Jahre jedenfalls wird von einer Mittelschullehrkraft vorgeschlagen, interessante Pohlversuche im Werkunterricht nachzubauen. Hervorgehoben wird dabei insbesondere, dass sich die einfachen Aufbauten des Göttinger Professors dafür vorzüglich eignen, während andere Apparate „immer stümperhaft geraten“ (Schroeder 19299E5YB7N5: 25). Pohl selbst trug zu einer Verbreitung seiner Versuche auch dadurch bei, dass er sie im Rahmen von Ferienkursen vorführte, die in Göttingen als Weiterbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte abgehaltenen wurden (Burchardt 19305F39LRSQ: 662).
Den weitaus größten Einfluss hatte Pohl allerdings sicherlich über sein auch an Lehrer*innen adressiertes Lehrbuch (vgl. Kosmos Pohl II – „Einführung in die Physik“). Besonders deutlich wird das an einer Rezension zum ersten überhaupt erscheinenden Band, der Elektrizitätslehre aus dem Jahre 1927, bei der schon der Titel sehr aufschlussreich ist: „Bemerkung zur Didaktik des Physikunterrichtes auf der höheren Schule und der Hochschule aus Anlaß der Darstellung im Lehrbuche von R. W. Pohl Einführung in die Physik“ (Hillers 1928LYG4RCM4). Anders als seine Zeitgenossen stellt Pohl in seiner Elektrizitätslehre nicht erst verschiedene Phänomenfelder vor, um sie später zusammenzuführen. Er geht stattdessen vom (elektromagnetischen) Feldbegriff aus und demonstriert gleich zu Beginn nicht nur wie sonst üblich magnetische, sondern auch elektrische Feldlinien, um deren Zusammenhang experimentell zu belegen. Den Rezensenten veranlasst dieser Traditionsbruch dazu, eine Neuorganisation der Darstellung der Elektrizitätslehre im Schulunterricht nach Pohls Vorbild vorzuschlagen, was 1933 auch im Rahmen einer Konferenz diskutiert wurde (Pohl 1933EIY2DUPC). Pohl beeinflusste den Physikunterrricht also nicht nur auf Ebene des Textinhalts und der Versuchsdarstellungen, sondern auch in struktureller Hinsicht, weshalb in den 1930er Jahren galt: „Jeder Physiklehrer hat die Pflicht, sich in dieses einzigartige Werk zu vertiefen.“ (Mtth. 1932VN2FAB2V)
Während Lehrbuch und Versuchstechnik also nachweisbar einen direkten Einfluss auf den Physikunterricht 1920er und 1930er Jahre hatten, kann dies für Pohls Vorlesungsperformance — etwa eine besonders geschickte Verknüpfung von Tafelarbeit, Vortrag und Demonstration oder den körperlichen Einsatz in den Vorführungen (vgl. Konzept I – Performanz von Lehre) — so nicht gezeigt werden. Es fehlen schlicht die entsprechenden Zeugnisse und Quellen. Dabei ist durchaus denkbar, dass die Performance rezipiert wurde, wenn auch eher indirekt und in einer Weise, wie sie mir ein ehemaliger Physiklehrer und Fachgruppenleiter im Interview schilderte, der 1976 die Göttinger Experimentalphysikvorlesung besuchte. Von manchen Versuchsvorführungen — so warf der Dozent einen großen hölzernen Bumerang von der tiefliegenden Hörsaalbühne aus über alle Bankreihen hinweg und fing ihn anschließend wieder auf — war er so beeindruckt, dass er sie später im eigenen Unterricht seinen Schüler*innen an inhaltlich passender Stelle nacherzählte.