Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

July 23, 2021

Bedingungen V – Nicht nur in Göttingen

Neue Demonstrationstechnik im frühen 20. Jahrhundert

Der Pohl-Schwerpunkt in diesem Blog lässt in den Hintergrund treten, dass die Entwicklung neuer Vermittlungskonzepte und technischer Hilfsmittel für die experimentelle (Vorlesungs-)Lehre im frühen 20. Jahrhundert kein singuläres Phänomen war, sondern vielerorts und in unterschiedlichen Kontexten stattfand. Ein Faktor dafür wurde von Roland Wittje in seinem Artikel zum „System Pohl“ herausgearbeitet (vgl. Kosmos Pohl I – Der Hörsaal als Infrastruktur). Wittje weist darauf hin, dass in den 1920er Jahren in den Katalogen der Lehrmittelhersteller eine große Zahl stark spezialisierter und kaum mehr zeitgemäßer Demonstrationsapparate verzeichnet war (Wittje 20112HX7L6VX: 325). Während die moderne Quantenmechanik formuliert wurde, führte man in den Einführungsveranstaltungen Versuche vor, mit denen schon Georg Christoph Lichtenberg (vgl. Bedingungen IV – Mehr als eine „harmlose Spielerei“) 140 Jahre zuvor seine Vorlesung bestückte. Hier bestand also ein erheblicher Innovationsdruck ausgehend davon, was physikalische Praxis im frühen 20. Jahrhundert bedeutete und wie sie gleichzeitig in der Grundvorlesung zur Experimentalphysik repräsentiert wurde.

Wesentlicher für den allgemeinen Trend jedoch war zweifellos die drastische Zunahme der Schüler*innen- und damit zeitlich leicht versetzt auch der Studierendenzahlen in Deutschland um 1900 (vgl. Rezeption III – Pflichtlektüre für Physiklehrkräfte). Sie forderte neue Demonstrationstechniken, da die drastisch angewachsenen Publika sonst das Geschehen auf dem Experimentiertisch der Dozierenden nicht mehr hätten sehen und deuten können. Dass nun neue Strategien entwickelt wurden, um die experimentelle Einsicht aufrecht zu erhalten, zeigt auch, wie selbstverständlich solche Demonstrationen in der zeitgenössischen physikalischen Lehre waren.

Projektionstechnik

Die Projektion von Versuchen auf die Hörsaalwand spielte in den neuen Konzepten eine wesentliche Rolle und dies nicht nur in der Physik. So wurde etwa 1911 in der Zeitschrift für Elektrochemie „Ein Projektionsapparat für die Chemievorlesung“ vorgeschlagen (Stock 1911U3BKJVZB), der wie später die Demonstrationen Pohls auf der Kohlenbogenlampe (vgl. Bedingungen III – Punktlicht im Spotlight) basierte. 

Stocks Projektionsapparat für den Chemieunterricht, eingerichtet für die Projektion von Gegenständen (Stock 1911U3BKJVZB: 1000).

Das mobile, wenn auch wegen des großen Lampengehäuses recht sperrige Gerät erlaubte es, gleichermaßen 

„[…] Photographien, Zeichnungen, Tabellen, kleine Apparate, durchsichtige und undurchsichtige Substanzen, mikroskopische Präparate, Kristallisationserscheinungen, chemische, elektrische und thermische Vorgänge verschiedenster Art gleichtzeitig einem großen Kreise von Hörern sichtbar zu machen.“ (Stock 1911U3BKJVZB: 995) 

Dieser geschlossene, klobige Kasten stand den universellen, damals über den Lehrmittelhandel zu beziehenden Projektionsapparaten zweifellos näher als den flexiblen, geradezu minimalistischen Aufbauten Pohls. Der Zweck war jedoch der gleiche: Eine enorme Bandbreite von Medien, Dingen und Prozessen sollten einem zahlreichen studentischen Publikum vor Augen geführt werden.

Modulare Aufbauten

Doch auch der Pohlsche Minimalismus hatte Parallelen in einer Entwicklung der Jahrhundertwende, die ursprünglich in Vorlesungen eingesetzt, aber vor allem im Schulunterricht erfolgreich wurde. Der Assistent für Physik an der königlich landwirtschaftlichen Hochschule Berlin Wilhelm Volkmann (1872-?) stellte 1905 einen „Physikalischen Baukasten“ vor, der als Grundelement das in chemischen Laboratorien und Praktikumsräumen weit verbreitete Bunsenstativ nutzte (Volkmann 1905U37DEN6Y). 

Aufbauten aus dem Volkmann-System im Vertrieb bei Koehler (Leipzig) (Koehler 19143TZ6RQFA: 734).

Das einfache und vor allem kostengünstige Versuchsmaterial eignete sich nicht nur gut für Demonstrationsversuche, sondern auch Schüler*innenexperimente, die just in dieser Zeit zu einem festen Element der physikalischen Lehrpläne wurden (vgl. Rezeption III - Pflichtlektüre für Physiklehrkräfte). Als „Aufbauphysik“ wurde das Prinzip des Versuchsbaukastens zum Fundament des Erfolgs insbesondere für den Göttinger Lehrmittelhersteller PHYWE (Pieper 1983XGUVP2NF: insbes. 179 ff.) (vgl. auch Rezeption II - Einflüsse in Göttingen). Zugleich kam es Lehrkräften entgegen, die im Sinne Wittjes an einer zeitgemäßen Lehre der Experimentalphysik interessiert waren, die nicht auf sehr spezialisierte, altmodische Apparaturen zurückgriff. Dem Konzept Pohls ähnelte das Baukastenprinzip Volkmanns auch insofern, als im Unterschied zu geschlossenen Geräten die so aufgebauten Versuche deutlich machten, dass mit den immer gleichen Bauteilen auch die immer gleichen physikalischen Prinzipien zur Anwendung kommen.

Neue Hörsäle

Pohl war auch nicht der einzige, der sich über eine neue Lehrarchitektur Gedanken machte, die den wachsenden Hörer*innenzahlen gerecht wurde. Auf ganz eigene Art stellte Pohls Münchner Kollegen Jonathan Zenneck (1871-1959) gute Sichtbarkeit in seinem neuen Hörsaal mit immerhin 866 Sitzplätzen her. Ähnlich wie bei Pohl gab es hier eine durchgängige Bühne ohne Aufbauten, in diese war jedoch ein Graben eingelassen, in dem der Dozent stand und so den davor liegenden Bühnenteil als Experimentiertisch nutzen konnte. Die Apparate wurden aus den Vorbereitungsräumen vor den Graben geschoben und von dort aus bedient und waren vor der durchgängigen, weißen Stirnwand ohne störende Anbauten Zenneck zufolge auch gut zu erkennen (Zenneck 1929IX9IXXML: 445 ff.). 

Der große Physikhörsaal der TU München  (Zenneck 1929IX9IXXML: 445).

Projiziert wurde jedoch auf diese Wand natürlich trotzdem und zwar hauptsächlich Diapositive sowie die Anzeigen der in den Versuchen eingesetzten Meßinstrumente. Die Eröffnung des Saals im Institutsneubau der TU-Physik fand zum Wintersemester 1926/27 statt und damit interessanter Weise fast zeitgleich mit dem Abschluss der Sanierung des von Pohl umgebauten großen Göttinger Physikhörsaals (vgl. Kosmos Pohl I – Der Hörsaal als Infrastruktur). 

Die Didaktik des Experimentellen als Forschungsfeld

Mit Blick auf das nicht mehr ferne Ende meines Projektes zur Lehre Pohls wird es langsam Zeit, sich über Anschlussideen Gedanken zu machen. Die „Didaktik des Experimentellen“ in der Physik des 20. Jahrhunderts, vielleicht im Vergleich mit Chemie und Biologie wäre zweifellos ein lohnendes, bisher kaum untersuchtes Feld für eine größere wissenschafts- und kulturhistorisch orientierte Arbeitsgruppe und längere Laufzeit. Herausgearbeitet werden könnte ausgehend von der Fallstudie zu Pohl die Bandbreite experimenteller Demonstrationsstrategien, ihre Entstehung und Rezeption, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Standorten und Fachkulturen, zwischen Schule und Hochschule. Und zweifellos würde dabei deutlich werden, dass nicht nur bei Pohl sich diese Geschichte in der Gegenwart fortsetzt.