Schattenprojektionen

Blog des Forschungsprojektes „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“

October 27, 2021

Kosmos Pohl V – Die Teile und das Ganze

Pohl als Dispositif der physikalischen Bildung

Mit Blick auf das nahende Projektende im März des kommenden Jahres wird es langsam Zeit, das bisher zusammengetragene und ausgewertete Material auch hier im Blog zu konsolidieren und ein erstes Fazit zu ziehen. Damit hatte ich indirekt im letzten Blogbeitrag schon begonnen, in dem ich die auf Pohl zurückgehende Lehrsammlung als idealen Untersuchungsgegenstand für eine gegenwärtige, an materieller Kultur interessierte Wissenschaftsforschung herausgestellt habe (vgl. Konzept V – Ein Mikrokosmos der Lehre). Auch historisch wirkte Pohl paradigmatisch, aber natürlich nicht für kulturwissenschaftliche Zugänge, sondern in der physikalischen Bildung an Schule und Hochschule. 

Was ist das Ganze?

Mit seinem für das Projekt zentralen Aufsatz zum „System Pohl“ (Wittje 20112HX7L6VX) habe ich Roland Wittje schon im zweiten Blogbeitrag zitiert (vgl. Kosmos Pohl I – Der Hörsaal als Infrastruktur). Darin werden die drei wesentlichen Elemente der Pohlschen Lehre – die charakteristische Demonstrationspraxis, der physische Apparat, das dreibändige Lehrwerk – bestimmt, ihre historischen Rahmenbedingungen umrissen und die nationale wie auch internationale Rezeption benannt. Sein Ausgangspunkt sind dabei die vorgeführten, bei Pohl eben besonders einfachen und anschaulichen Experimente, deren Bausteine von Spinder & Hoyer vertrieben und die in der „Einführung in die Physik“ beschrieben und in ihrem inhaltlichen Zusammenhang eingeordnet wurden. Elemente die den Versuchen als Infrastruktur vorausgingen – die Experimentiertische (vgl. Kosmos Pohl IV – Der Experimentiertisch), die Bogenlampen (vgl. Bedingungen III – Punktlicht im Spotlight) sowie die Hörsaalarchitektur (vgl. Kosmos Pohl I – Der Hörsaal als Infrastruktur) – spielen bei Wittje eine eher untergeordnete Rolle, ebenso wie das Schulwesen und seine Anforderungen (Rezeption III – Pflichtlektüre für Physiklehrkräfte) oder kulturelle Kontexte (vgl. Bedingungen I - Die Hand von Graf Orlok).  

Robert Wichard Pohl während der Vorlesung beim Erläutern eines Versuchs (Foto: Familienarchiv Pohl).

Doch auch diese vielen Elemente ergeben zusammengenommen nicht zwangsläufig ein „System“, für das der DUDEN derzeit sieben Bedeutungen kennt, die natürlich hier nicht alle relevant sind:

  1. wissenschaftliches Schema, Lehrgebäude
  2. Prinzip, nach dem etwas gegliedert, geordnet wird
  3. Form der staatlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Organisation; Regierungsform, Regime
  4. Gesamtheit von Objekten, die sich in einem ganzheitlichen Zusammenhang befinden und durch die Wechselbeziehungen untereinander gegenüber ihrer Umgebung abzugrenzen sind
  5. Einheit aus technischen Anlagen, Bauelementen, die eine gemeinsame Funktion haben
  6. a) Menge von Elementen, zwischen denen bestimmte Beziehungen bestehen
    b) in festgelegter Weise zusammengeordnete Linien o. Ä. zur Eintragung und Festlegung von etwas
    c) Menge von Zeichen, die nach bestimmten Regeln zu verwenden sind
  7. nach dem Grad verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit gegliederte Zusammenstellung von Tieren, Pflanzen (DUDEN 2021UGNZF8N2)

Wenn man voraussetzt, dass in jeder Experimentalphysikvorlesung ohnehin ein bestimmtes Lehrgebäude vermittelt wird (Bedeutung 1), nämlich die Grundlagen der Mechanik, Elektrizitätslehre und Optik, dann sind zwei weitere Bedeutungen schon an dieser Stelle problemlos auf den Fall Pohl anwendbar: Vorlesung und Buch repräsentieren das zugrundegelegte Prinzip der Gliederung und (An-)Ordnung (Bedeutung 2), das Equipment ist eine Einheit von Bauelementen mit gemeinsamer Funktion (Bedeutung 5). 

Fotografie eines Aufbaus zum ‚elektrischen Wind‘ für die „Einführung in die Physik“ (Foto: I. Physikalisches Institut, Negativsammlung Pohl, Box 15.4).

Mehr als die Summe der Teile

Nebeneinander gestellt sind Praxis und Buch, Infrastruktur und Apparate also vielleicht für sich genommen Systeme allerdings noch kein *gemeinsames* System. Dazu werden so unterschiedliche Aspekte erst dadurch, dass sie in einem ganzheitlichen, von Wechselwirkungen geprägten Zusammenhang stehen und sich dadurch von ihrer ‚Umwelt‘ abgrenzen (Bedeutung 4). In meinen Augen lässt sich dies dann besonders gut zeigen, wenn man die einzelnen Elemente nicht als statisch und isoliert beschreibt, sondern ausweist, dass und wie sich das „System Pohl“ in seinen Versuchen, den Inhalten und deren textlicher Anordnung beständig veränderte – von der ersten Vorlesung in Göttingen 1919 bis zur letzten, im Todesjahr Pohls erscheinenden Auflage der „Optik und Atomphysik“ (Pohl 1976U9N228T5). Deutlich werden muss dabei auch, dass diese Veränderungen nicht selten Reaktionen auf die Umwelt waren – auf neue physikalische Lehrinhalte bzw. -schwerpunkte oder kritische Kommentare zu früheren Auflagen etwa in Rezensionen.

Gerade die Lektüre der vielen Rezensionen führt vor Augen, dass das System Pohl aber eben nicht nur ganzheitlich, sondern auch mächtig war, eben eine „Pflichtlektüre für Physiklehrkräfte“ (vgl. Rezeption III). Es ist eine grundlegend eigenständige, komplexe Organisationsform für die Vermittlung physikalischer Inhalte, ein ‚Regime‘ der Vermittlungspraxis (Bedeutung 3). Man kann es schicht reproduzieren, wie Pohls Nachfolger in Göttingen, man kann die Stoffanordnung in den Schulunterricht übernehmen, man kann eigene Versuche nach dem Demonstrationsprinzip Pohls entwickeln, wie dies bei PHYWE geschah, man kann das Ganze als Zirkus bezeichnen und damit lächerlich machen wollen, aber ignorieren kann man das System nicht.

Katalog der Firma Spindler & Hoyer mit Geräte und Apparaten zur Vorführung der Versuche Pohls in Lehre und Unterricht (Spindler & Hoyer [1928]3HLAPLEV: 1).

Ein Dispositif der physikalischen Bildung

Kontrolle und Macht, durch Praktiken transportiert und ausgeübt, wurde besonders intensiv von Michel Foucault untersucht. Mit seiner Diskursanalyse ist er vor allem für die Beschäftigung mit sprachlichen Praktiken – das gedachte, gesprochene und geschriebene Wort – bekannt. Foucault selbst hat allerdings an verschiedenen Stellen geäußert, dass ihn eigentlich das sogenannte Dispositif interessierte, dass nicht nur aus Diskursen besteht (z. B. Peltonen 2012A4LWPT48). Der Ein Dispositif ist für Foucault das Gefüge aus „institutions, architectural forms, regulatory decisions, laws, administrative measures, scientific statements, philosophical, moral and philanthropic propositions - in short, the said as much as the unsaid.“ (Foucault 1980J9WF6ERC: 194) Es ist damit allgemein gesprochen „[...] das Zusammenspiel diskursiver Praxen (= Sprechen und Denken auf der Grundlage von Wissen), nichtdiskursiver Praxen (= Handeln auf der Grundlage von Wissen) und ‚Sichtbarkeiten‘ bzw. ‚Vergegenständlichungen‘ (von Wissen durch Handeln/Tätigkeit) […]. Dispositive kann man sich insofern auch als eine Art „Gesamtkunstwerke“ vorstellen [...].“  (Jäger 2021RJSKEMJJ). In diesem Sinne, wenn auch ohne die für Foucault so wichtige Macht-Dimension taucht der Dispositif-Begriff hier im Blog am Rande schon auf, nämlich in einem filmischen Beispiel für medienarchäologische Zugänge unter dem Titel „Staging the amateur film dispositif“ (vgl. Konzept II - Die Lehrsammlung als Laborraum).

Das System Pohl wiederum ist zweifellos ein machtvolles Gesamtkunstwerk und der Dispositif-Begriff scheint mir deshalb hervorragend geeignet, die unterschiedlichen hier auch im Blog schon angesprochenen Aspekte zusammenzuführen: die Performance im Hörsaal bis in die Gegenwart, die Schattenspiele mit ihrem apparativen Unterbau, die „Einführung“ und ihre Rezeption. Dieses Gemenge ist als ein „regime of practices“ (Foucault 1991YNBLGVMK: 75) herauszuarbeiten, dass für viele Jahrzehnte die globale Wirklichkeit physikalischer Lehre mitgestaltete und lokal dominierte.